Vielleicht mag es nur ein Phänomen in meiner Twitter-TL sein, aber sehr viele Menschen scheinen derzeit regelrecht auf eine Neuwahl zum 18. Deutschen Bundestag zu hoffen. Diese Einschätzung kann ich in keiner Weise teilen. Mehr noch, ich halte Neuwahlen für das denkbar Schlechteste, was mensch in Deutschland politisch gerade passieren könnte.
Glaubt mir, die Ergebnisse der #btw13 schmecken mir überhaupt nicht. Und das Abschneiden der Piratenpartei ist dabei noch das geringste Problem. Woher das imho kommt, habe ich ja schon ausführlichst beschrieben. Nein, das Problem liegt tiefer. Das starke Abschneiden der Unionsparteien, die Schlappe für jene Parteien, die ihrer Selbstauffassung nach irgendwie „progressiv“ sind und vor allem der Beinaheeinzug der neurechten AfD sind nur Symptome. Symptome eines gesellschaftlichen Klimas, das über Jahre gewachsen ist.
Das, was sich gerade in Form eines Wahlergebnisses als Gesellschaftsmeinung (wie exakt das nun ist, darüber kann gestritten werden) manifestiert hat, trägt einen Namen: Backlash. Dieser „Gegenschlag“ richtet sich gegen sicher geglaubte gesellschaftliche Errungenschaften. So etwas wie Toleranz, Solidarität, das Begreifen von Vielfalt als Bereicherung. Dass es damit oft nicht weit her ist, haben wir sehen können, wenn es darauf ankam. Dabei ist es völlig egal, ob es sich nun um das Asylrecht, den Solidaritätszuschlag, das ALGII, freie Religionsausübung, Polizeigewalt, Behördenwillkür oder sonst etwas handelt. Sobald eines der Themen auf der politischen Tagesordnung stand, war zu sehen, wie groß die Kluft zwischen den Statements politischer Parteien (naja, den meisten zumindest) und den Ansichten der durchschnittlichen Bevölkerung war. Und nicht immer war das so deutlich wie in Marzahn-Hellersdorf. Nein, dieser Backlash bahnte sich nicht erst im Wahlkampf an. Gelauert hat er schon die ganze Zeit. Er musste nur einen Kanal, ein Ventil finden. Und das war die Bundestagswahl.
So ein Backlash passiert ja nicht über Nacht. Er wird stets von konservativen bis traditionalistischen Meinungen getragen, da diese einfache Antworten auf komplizierte Sachverhalte zulassen. In einem Klima, in dem sich die „Schere“ zwischen arm und reich immer weiter öffnet, greift die Abstiegsangst um sich. Vor allem, wenn Solidarität individuell eher bestraft als belohnt wird, stoßen solche vermeintlich „richtungsweisenden“ Ansichten auf offene Ohren und – leider – auch Herzen.
Aber was hat das jetzt mit der Wahl zu tun? Ziemlich viel. Würde es jetzt zu Neuwahlen kommen, würden viele Menschen das wohl als einen Beleg für die Schwäche des (repräsentativ-) demokratischen Systems betrachten, da es ja noch nicht einmal in der Lage ist, eine stabile Regierung hervorzubringen. Dass das natürlich nur bedingt am System liegt, fällt in dieser Argumentation leider häufig unter den Tisch. Ausgangspunkt für die nächste Wahlentscheidung wäre dann selbstverständlich das im letzten Wahldurchlauf abgebildete Kräfteverhältnis. Das bedeutet, dass die Menschen höchstwahrscheinlich noch strategischer wählen würden als beim letzten Mal. Das, was beim letzten Mal gerade so verhindert werden konnte – absolute Mehrheit CxU und AfD im Bundestag – könnte im nächsten Anlauf beides eintreten. Zumal es wohl passieren könnte, dass sich die FDP-Wählerschaft (aus Frust über die Partei und „die Politik“) spaltet in für Merkel (Stimme CxU) und gegen Merkel (Stimme AfD). An der Stimmaufteilung für Grüne, Linke und SPD dürfte sich wohl wenig ändern. Ich schätze deren Wählerschaft so ein, dass sie für sich gute Gründe hat, „ihre“ Partei und nicht eine der beiden anderen zu wälhen. Vielleicht würde die SPD noch ein paar strategische Gnadenstimmen bekommen, aber größere Prozentsprünge sind auszuschließen.
Eine Neuwahl würde diesen Backlash also eher zementieren. Das jetzige Ergebnis ist beschissen, keine Frage. Aber es beschneidet die Ressourcenzufuhr für die AfD und gibt der Union keine absolute Mehrheit. Klar, sollte es jetzt zu einer großen Koalition kommen, hätten wir – Sitzverteilung im Bundesrat sei Dank – eine Regierung, die mal eben locker flockig das Grundgesetz nach Lust und Laune ändern darf. Bisher stand dem ja das „Oppositionsmeinung =!Regierungsmeinung“-Spielchen im Wege. Aber das würde dann – mangels Parlamentssitze – entfallen.
Immerhin besteht jetzt die Möglichkeit, dass sich die progressiven Kräfte neu aufstellen und in den nächsten vier Jahren diesem Wahlergebnis den Nährboden (Backlash) entziehen. Das ist aus der (auch außerparlamentarischen) Opposition heraus schon schwer genug. Ich will nicht wissen, wie schwer das erst nach einer Neuwahl werden würde…