Liebes Wave-Gotik-Treffen, wir müssen reden…

Ach, war das eine herrliche Zeit! Das schriftliche Abitur ist gerade vorüber, das letzte bisschen Schule nicht mehr so wichtig, als dass man es nicht einfach zu Gunsten eines Festivals schwänzen könnte und man ist als Landpomeranze in die große, große Stadt gereist, um bei bestem Campingwetter mit Gleichgesinnten der düsteren Musik zu frönen. Alles neu, alles aufregend, alles ander5. Doch das war 2008…

Cut. Wir befinden uns im Jahre 2013. Bereits zum sechsten Mal verbringe ich mein Pfingsten in Leipzig. Das „Wave-Gotik-Treffen“ (WGT) steht an. Für alle, die nicht im Bilde sind: dabei handelt es sich um eines der größten und ältesten Musikfestivals für die sog. „Schwarze Szene“. Ja, genau. Gruftis, Gothics, Totengräber und so. Natürlich hat sich mein Blick auf das Ganze gewandelt. Ich bin sechs Jahre älter und um einiges(TM) an Erfahrung reicher. Nicht nur Lebenserfahrung im Allgemeinen, sondern im Besonderen an Erfahrung mit der eigenen Szene.

Vielleicht ist es die Quarter-Life-Crisis, vielleicht das Angry-Old-Man-Syndrome, aber sie kommt nicht mehr so gut weg, diese eigene Szene. Und du, Wave-Gotik-Treffen, bist langweilig geworden. Ja, es ist richtig, dass du in der Art und Weise, wie du stattfindest, wohl einzigartig bist. Welches andere Event erstreckt sich sonst dezentral über eine gesamte Stadt? Welche andere Veranstaltung ist sonst so breit an Veranstaltungen aufgestellt, dass nicht nur Konzerte, sondern auch Kulturelles seinen Platz findet? Aber dennoch, liebes WGT, du bist langweilig geworden. Warum? Nun, du wiederholst dich. Es ist immer derselbe Reigen derselben Bands, die spielen. Immer dieselbe Auswahl an kulturellem Programm, das es zu sehen gibt. Es geht auch nur im Entferntesten um das Thema „Tod“? Na super! Habemus ultratiefsinniges Kulturgeplänkel. Not. Popkulturelle Phänomene werden so zu intellektuell Relevantem stilisiert und die Meute suhlt sich in ihrer eigenen (gefühlten) Tiefsinnigkeit. Dabei hüpft und zappelt sie im gleichen Atemzug auf deinen Tanzflächen herum, liebes WGT. Zu Musik, die genauso niveaulos wie unoriginell ist. Aber man ist doch so herrlich anders dadurch. Im Alltag. Und überhaupt.

Anders wollen sie ja alle sein, deine Kinder, liebes WGT. Sie schimpfen auf die Spießer im Alltag und lobpreisen IHR Leipzig, IHR WGT, IHR Refugium, das ja so gänzlich anders ist, als der pöhse, pöhse Alltag von den pöhsen, pöhsen, intoleranten und konformistischen Spießern. Deswegen haben sie auch kaum andere Gesprächsthemen auf IHREM WGT, als wer wo welches Schnäppchen gemacht hat, an welchem Stand es die bessere Currywurst, das bessere Langos, die besten Pommes gibt. Sie stören sich, an den gaffenden Normalos vor den Toren des Hauptveranstaltungsorts und rennen trotzdem fröhlich jedem Werbegeschenk hinterher, das die Verkaufsstände zu bieten haben. Sie sparen sooo lange auf die Stangenware der namhaften Klamottenlabels, damit sie dann endlich anders sein können, als die ultrakonformistischen Normalos.

Und wehe, es traut sich tatsächlich einmal jemand, etwas Eigenes, etwas Neues, etwas Vielschichtiges zu kreieren und präsentieren. Das treten deine Kinder mit Füßen, liebes WGT. Denn das ist ja nicht lustig. Nicht unterhaltsam. Nicht so leicht zu verdauen. In derselben Zeit hätten sie doch genauso gut eine Neue-Deutsche-Härte-Macho-Metal-Band hören können oder etwas von dieser wunderbar tanzbaren Elektromusik. Du weißt schon, die bei der die verzerrte Stimme irgendwelche Sachen zum Thema „Ficken“ – vielleicht sogar als Zweideutigkeit verpackt – zum Beat grölt.

Aber es ist ja nicht einmal nur der Themenfokus und die Hybris deiner Szene, liebes WGT, was mir Kopfzerbrechen und Ungemach bereitet. Es gibt ja auch noch die Politik. Ich weiß, liebes WGT, dein Vater spricht nach außen hin nicht gern über dich. Fast so, als wolle er nicht zugeben, dass er dein Vater ist. Ich weiß, es ist traurig, liebes WGT. Aber wir wollen doch nicht vergessen, dass du einen Vater hast. Jener Vater, der dir das Label „unpolitisch“ verpasst hat, was mich zuerst laut lachend und dann laut seufzend gemacht hat, als ich merkte, dass deine Kinder, liebes WGT, das tatsächlich glauben. Das Thema wurde schon so oft durchexerziert [http://www.l-iz.de/Leben/Gesellschaft/2011/06/Wave-Gotik-Treffen-XX-Schwarz-statt-braun.html , http://schwarzstattbraun.files.wordpress.com/2011/06/2010_jul-aug_derrechterand_zum_wgt-2010.pdf]. Und dass dein Vater, WGT, fern von jeder Einsicht ist, scheint mir sicher zu sein. Doch es geht mir gar nicht so sehr darum, dass er weiterhin fragwürdige (um es einmal diplomatisch zu formulieren) Bands spielen lässt, fragwürdige Händler auf das Gelände einlädt, fragwürdige Symbole auf Einlasskarten druckt und fragwürdigerweise jeden Anglizismus auf der deutschsprachigen Festivalwebsite vermeidet, wie der Teufel das Weihwasser (#Weltnetz). Es geht mir darum, dass seine Kinder es fressen und sich nicht beschweren. Dass sie die Mär des Unpolitischen glauben und sich weiter in ihrer Blase aus Ignoranz und Konsum aufhalten und jeden angreifen, der auch nur entfernt erahnen lässt, diese ankratzen zu wollen.

Ich bin müde geworden, liebes Wave-Gotik-Treffen. Und ich glaube, es wäre das beste, würden wir beide andere Leute sehen…

Dein T.

Autor: Herr_Samsa

Eingeschlafen - geträumt - aufgewacht - Käfer.

5 Gedanken zu „Liebes Wave-Gotik-Treffen, wir müssen reden…“

  1. Lol einerseits sind die Bands alt und immer die selben andererseits ist die Musik niveaulos, klingt nach Eigentor.
    Das WGT wird nicht für dich gemacht sondern für eine Zielgruppe der du entwachsen bist 😛
    Für die neuen Goths sinds eben nicht immer die selben alten Sachen. Wird Zeit, dass du das Genre wechselst um was Neues zu erleben:D

  2. Ich war dieses Jahr zum fünften Mal da.
    Ich bin auch seit einer Weile hin und her gerissen. Aggrotech und co. stören mich weniger, da ich mein Programm immer noch voll mit Lesungen und nur einer Hand voll Bands habe.
    Vieles dessen, was du ansprichst fiel mir dieses Jahr auch zum ersten Mal so stark auf und stieß mir ziemlich übel auf.
    Zur ewigen Rechtsoffenheit:
    Die ist scheiße und man muss was dagegen tun oder gehen und nie wieder kommen. Leider weiß ich noch nicht was man wirklich tun kann und aufgeben will ich noch nicht.

    Bereits vor dem diesjährigen WGT habe ich lange überlegt ob ich fahren will, das hatte viele Gründe. Das Festival selber hat mir diese Entscheidung für das nächste Jahr jedoch nicht erleichtert.

    Auf der anderen Seite steht jedoch für mich, die einzige Zeit des Jahres an dem sich viele meiner Freunde aus der Schulzeit an einem Ort versammeln und man entspannt vor dem Zelt sitzen, sich bis zum Sonnenaufgang unterhalten und gemeinsam Events besuchen kann.
    Grade das Kulturprogramm, mit Lesungen, klassischen Konzerten und Ähnlichem macht dabei auch den größten Teil der Gestaltung meiner Zeit aus.

    Was ich nächste Jahr tue, weiß ich im Moment noch nicht. Große Hoffnung, dass die Dinge sich ändern habe ich leider nicht mehr.

  3. Ich finde auch das sich das WGT verändert hat. Es ist zum großen Teil eine Art Karneval geworden. Aber im ganzen ist das WGT das was man selbst draus macht. Zu Konzerten von Bands die mir nicht gefallen muss und werde ich nicht gehen. Orte die mir nicht gefallen werde ich nicht besuchen. Ich entscheide was ich auf dem WGT mache und wenn es mir garnicht mehr gefällt, dann gehe ich ebend nicht mehr hin.

    Das WGT oder die Szene politisch zu nutzen geht mir auf den Zeiger, die Linken jammern über rechte Elemente rum, orr wie das schon nervt. Langsam weis ich nicht mehr so recht was schlimmer ist von beiden. Und was machen überhaupt Stände von den Piraten an der Agra? Politik, egal welche Richtung hat auf so einem Festival nichts zu suchen. Punkt.

    Daniel

    1. Lieber Daniel,

      „Ich entscheide was ich auf dem WGT mache und wenn es mir garnicht mehr gefällt, dann gehe ich ebend nicht mehr hin. “
      -Richtig, das sehe ich auch so. Siehe meine Conclusio am Ende des Beitrags.

      „Und was machen überhaupt Stände von den Piraten an der Agra?“
      – Man kann mir Voreingenommenheit vorwerfen, aber das ist ein eigenes Thema. Der Infostand war nicht Teil des Festivals. Richtig, er hat wohl auf dessen Besucher abgezielt, aber das war nichts, was in der Macht des Veranstalters oder der Szene gelegen hätte.

      „Politik, egal welche Richtung hat auf so einem Festival nichts zu suchen.“
      – Mag wie eine banale Frage klingen, aber: Was ist Politik? Wo fängt sie an und – vor allem – wo hört sie wieder auf? Ich wage zu behaupten, dass das viel weiter reicht, als Parteienlabels es tun.

      Grüße,
      Herr_Samsa

  4. Für mich war das WGT schon immer eine Randveranstaltung mit reinem Unterhaltungscharakter, weshalb ich für mich nicht erkenne, dass sich hier etwas grundlegend geändert hätte in den letzten fünf Jahren, die ich überschauen kann. Gut, das Programm war dieses Jahr besonders schlecht! Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich 29 war, als ich das erste mal da war und damit ziemlich illusionslos und unemotional. Die kulturellen Elemente bargen doch hier schon immer nur Begeisterungspotential für Menschen, die sich sonst gar nicht mit solchen Dingen beschäftigen, da vom Niveau her eher flach. Aber wenn man nie Lesungen, Opern oder klassische Konzerte besucht oder historische Themen bearbeitet hat, ist das bestimmt eine interessante Abwechslung.

    Egal welche Musikkultur, egal welche Szene, jede hat Ihre Codes und Ihre Macken, genauso, wie jede als Kunstform auf Konsum angewiesen ist, um wirtschaftlich zu überleben. Die Goths gehören dabei zu den konsumgeilsten Spiesern, die ich auf meinen Reisen je gesehen habe, von daher ist diese Beobachtung m.E. richtig. Mich wundert nur, dass Du das jetzt errst siehst. Übrigens ist hier festzuhalten, dass die Themen, die du oben ansprichst, deshalb trivial sind, weil das Leben trivial ist. Das ist nichts Szenespezifisches, ob die Currywurst und der Langos geil ist, der Mini-Lack-Rock günstig oder der Bausparvertrag demnächst ausläuft. Das ist schlicht das Leben. Trivial, langweilig, dumm.

    Übrigens sind Individualität und Individualdefinition über Szeneidentität miteinander in meinen Augen ex definitione unvereinbar. Ein Individuum, so wie Du es wohl sein willst, hat daher keine „eigene“ Szene. Es fühlt sich nur in der einen wohler als in der anderen. Und für die Goths gilt das gleiche wie für die Metaller. In der Masse sind sie alle gleich, sehen gleich aus und sind damit gerade nicht unterschiedlich. Sinn von Szene und Subkultur ist ja gerade dieses „Gemeinschaftserlebnis durch Konformität“!

    Also sieh das WGT einfach als das, was es ist. Ein Treffen, bei dem Menschen Spaß haben wollen. Mit seichter Musik, Maskenspielen, Obszönitäten, Alkohol, Drogen, Sex, ordentlich Konsum und kulturellem Rahmenprogramm. Mit Politik, Kultur, intellektueller Reflektion oder gar gesellschaftspolitischer Kritik bis hin zur Rebellion hat das alles genausowenig zu tun, wie die nächste Time Warp! Die Gretchenfrage für dich lautet daher nur: Hast Du Spaß dran oder nicht? Das ist alles. Keine Tiefe, keine Reflektion, keine Erkenntnis, keine Vision, keine Gleichgesinnten, keine Loslösung vor dem ewigen Alleinesein im Kopf, nichts, … nur Spaß – oder eben keinen! Und solltest Du keinen Dran haben, dann lies doch einfach die nächsten Pfingstferien Adorno/Horkheimer „Die Dialektik der Aufklärung“ oder die „Minima Moralia“. Damit habe ich mal Pfingsten 1997 verbracht. Und obwohl ich beide Werke sehr schätze, häng ich mittlerweile doch lieber auf dem WGT ab. Macht mir einfach mehr Spaß!

    LG

    Doc L

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