Im Streichelzoo der Überwachung

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CC BY-SA Jonathan McIntosh, flickr.com

Gerade ist die Empörung einmal wieder strohfeuergewordene öffentliche Meinung, da Angela Merkels Handy potentiell von US-amerikanischen Geheimdiensten“ausgespäht“ wurde. Bei einschlägigen Nachrichtenportale werden zugehörige Artikel unter dem Schlagwort Internet-Überwachung gesammelt. Und weiter?

Zum Einstieg: Prototypensemantik

Fluch und Segen an der Prototypensemantik ist, dass sie äußerst weitschweifig sein kann. Um den Bedeutungsgehalt eines Wortes zu ermitteln, werden Eigenschaften dessen gesammelt, was das Wort bezeichet. Zum Beispiel beim Wort Tisch können da sehr schnell Eigenschaften wie „hat vier Beine“, „ist aus Holz“ oder „hat eine waagrechte Oberfläche“ auftauchen, die diesem Prototyp-Tisch zugerechnet werden. Aber sehr schnell fallen dann eben auch Ausnahmen auf: nicht jeder Tisch hat vier Beine, ist aus Holz oder verfügt über eine waagrechte Oberfläche, ist nichtsdestoweniger aber ein Tisch. Wir merken also schnell, dass gewisse Trennunschärfen in der Sprache nichts Ungewöhnliches sind.

Was ist Überwachung?

Im politischen Diskurs fällt schnell das Wort Überwachung. Aber was ist damit gemeint? Ist es Überwachung, wenn ich an der Tür zum Zimmer meines Mitbewohners lausche? Ist es Überwachung, wenn ich aus dem Fenster schaue und das Nummernschild des Autos sehe, das gerade vorbei fährt? Zumindest in letzterem Fall lässt sich sagen: Nein, auf keinen Fall. Beim Lauschen an der Zimmertür kann ich zwar – theoretisch – auch jemanden überwachen, aber da kommt es noch auf einige Begleitumstände an.

Dreh- und Angelpunkt bei dem Begriff der Überwachung ist das dahinter steckende systematische, zweckungebundene und dauerhafte Vorgehen zum Zweck des Informationsgewinns. Wenn ich also regelmäßig mit dem Ohr an der Tür meines Mitbewohners lausche, dann überwache ich ihn auch. Wenn ich etwas nur punktuell und temporär mache, ist es keine Überwachung. Würden wir per se Ermittlungen in einem Strafverfahren als Überwachung bezeichnen? Eher nicht.

Und wieso ist der Begriff der Internet-Überwachung jetzt problematisch?

Problematisch ist nicht, dass es den Begriff gibt, problematisch ist, wie er benutzt wird (Achtung! Sie betreten jetzt den pragmatischen Sektor!). Eingebettet in den politischen Diskurs, in dem es um staatliche Überwachungsmaßnahmen geht, kann dieses Wort von der Ebene der Sprache aus die politische Diskussion und die Wahrnehmung politischer Sachverhalte beeinflussen. Wie das geht? Ganz einfach:

Der Geheimdienst eines Staates sammelt systematisch, zweckungebunden und dauerhaft Informationen aus der und über die Bevölkerung eines (nicht zwingenderweise anderen) Staates. Das ist Überwachung. Irgendwann hat sich in Deutschland die Meinung etabliert, dass staatliche Überwachung etwas schlechtes ist; etwas, das es zu vermeiden lohnt. Dabei bezeichnet Überwachung nicht nur den Tatbestand (das auf eine bestimmte Art und Weise erfolgende Sammeln von Informationen), sondern auch Strukturen, in denen sich der Prozess der Überwachung entfaltet. Es entsteht also die Konnotation Überwachung = schlecht.

Wenn ich jetzt aber statt von Überwachung von Internet-Überwachung spreche, ändere ich sprachlich die Reichweite ein und desselben Phänomens und somit auch dessen Bedeutung im politischen Diskurs. Denn wir gehen ja davon aus, dass Worte bewusst gewählt wurden und bewusst darauf verzichtet wurde, von Überwachung zu sprechen. Damit schwingen bei der Begriffsverwendung (mindestens) zwei Informationsebenen mehr mit:

  1. Es ist keine „richtige“ Überwachung, da sie „nur“ im Internet stattfindet.
  2. Überwachung und Internet-Überwachung sind nicht dasselbe, sonst wäre es ja dasselbe Wort.

Variante 1 ist problematisch, weil sie die politische Tragweite verharmlost. Das funktioniert überwiegend über persönliche Betroffenheit, bzw. Nicht-Betroffenheit. Ein Mensch, der nicht viel mit diesem komischen Internet am Hut hat, empfindet Internet-Überwachung auch als etwas unmittelbar weniger Bedrohliches, wenn ihm nicht klar ist, dass diese auch alle Kriterien der „richtigen“ Überwachung erfüllt, auch wenn diese nicht primär Kommunikationskanäle betrifft, die dieser Mensch selbst benutzt. Überhaupt ist diese Spaltung in „richtige“ und „nicht richtige“ Überwachung schon abzulehnen, weil sie denselben Tatbestand als etwas relativ harmloses präsentiert. PRISM, Xkeyscore, Tempora, die Vorratsdatenspeicherung, usw. befinden sich somit alle irgendwo im kuscheligen Streichelzoo der Überwachung. Und das kann ja nicht böse sein.

Variante 2 ist problematisch, weil die suggerierte Botschaft falsch ist. Internet-Überwachung ist Überwachung, auch wenn Internet davorsteht. Und hier kommen wir wieder zur Prototypen-Semantik. Ist ein Couchtisch etwa kein Tisch? Ist Orangen-Marmelade etwa keine Marmelade? Und ist Internet-Überwachung etwa keine Überwachung? Eben.

Autor: Herr_Samsa

Eingeschlafen - geträumt - aufgewacht - Käfer.