Bild: CC BY 2.0 Adrián Castillo Rivera
[tl;dr] „Die sind noch nicht so weit“ suggeriert das naturgesetzmäßige Aufeinanderfolgen unterschiedlicher sozialer Realitäten, was den einzelnen Menschen von der Verantwortung entbindet, diese zu gestalten, gleichzeitig aber jene Menschen abwertet, die nicht in dieses „Entwicklungsmodell“ passen.
Manche Dinge, die mit der menschlichen Existenz einhergehen, sind universal und unumstößlich. Wie beispielsweise die Tatsache, dass der Organismus all der Menschen, die gerade diesen Text lesen, eines Tages endgültig versagen wird, was ihr Leben unwiederbringlich beendet. Manch anderes ist nur sehr wahrscheinlich wie etwa das Erlernen des aufrechten Ganges und sich verbal zu artikulieren. Und dann gibt es Dinge, die willkürlich gemacht sind, aber so behandelt werden, als gehörten sie zu erstgenannter Kategorie. Diese Behandlung offenbart sich (u.a.) im Sprachgebrauch, in weit verbreiteten Phrasen. Eine davon ist „Die sind noch nicht so weit.“ Ich versuche im Folgenden darzulegen, wann und warum sie problematisch ist.
Das Jahr 2016 neigt sich seinem Ende zu. Gerade im Internet gehört es zum guten Ton, die zurückliegenden zwölf Monate zu verdammen und ihnen, metaphorisch gesprochen, eigenhändig das Kissen aufs Gesicht zu drücken. Neben dem unvermeidbaren Prominentensterben dürfte einer der Gründe dafür wohl der Ausgang der US-amerikanischen Präsidentschafstwahlen sein. Im Zuge der Berichterstattung rund um die Wahl Donald Trumps wurde vor allem in sozialen Netzwerken – und etwas weniger offensichtlich in der Presse – einmal mehr das Bild vom „dummen Ami“ gezeichnet. Eine Frau zur Staats- und Regierungschefin wählen? „Nee, die sind noch nicht so weit.“ Ein anderes Aufregerthema, für das akribisch Indizien gesucht und produziert wurden, war das vermeintlich rückständige und patriarchale Frauenbild muslimischer Geflüchteter, dessen Ursprünge – wie könnte es auch anders sein – im Islam vermutet wurden. Frauen als gleichberechtigte, gleichwertige menschliche Wesen behandeln? „Nee, die sind noch nicht so weit.“ Allzu häufig wurde die eigene „Fortschrittlichkeit“ und „openmindedness“ dadurch unter Beweis gestellt, dass anderen Rückständigkeit und Verbohrtheit attestiert wurde. Phraseologisch konzentriert sich dieser Vorgang in der Aussage: „Die sind noch nicht soweit“. Und damit sind wir auch schon mitten im Problem.
Fallstrick 1: Selbstaufwertung durch Fremdabwertung
Unabhängig davon, ob eine solche Äußerung nun im Singular (Du, er/sie/es) oder im Plural („die“) getätigt wird: Im Zentrum steht stets die Differenzierung zwischen einem Ich oder einer Wir-Gruppe und einer beliebig großen Gruppe, die sich aus „den anderen“ zusammensetzt. Ist das alleine schon kritisch genug, kommt in diesem Falle noch die Etablierung eines Wertigkeitsgefälles hinzu. Bewerkstelligt wird dies durch das Wörtchen „so“. Was hier gemeint, aber nicht gesagt wird, ist der Zusatz „wie wir“. Es wird ein Vergleich gezogen zwischen der überlegenen, besseren, da weiter entwickelten Wir-Gruppe und „denen“. Und „die“, die da „noch nicht so weit“ sind, können sehr viele unterschiedliche Gruppen sein. Häufig allerdings trifft es Menschen, die aufgrund von der Wir-Gruppe abweichender kultureller oder religiöser Praxen als „fremd“ wahrgenommen werden. Dabei ist fast noch von Glück zu reden, wenn körperliche Eigenschaften (Hautfarbe, zugewiesenes Geschlecht etc.) nicht berücksichtigt werden.
Fallstrick 2: Annahme einer gesetzmäßigen, linearen Entwicklung
Nicht immer muss sich die Scheißigkeit dieser Phrase in einem rassistischen Kontext abspielen. Mir fallen da Beispiele aus meinem eigenen Alltag und meiner Vergangenheit ein, die ein anderes Moment illustrieren. So erinnere ich mich daran, dass – als ich als Kind einmal sagte, dass ich mir nicht vorstellen könne, jemals mit einem Mädchen eine Beziehung zu führen – mir gesagt wurde, dass ich eben noch nicht so weit sei. Ähnlich verhält es sich heute, wenn ich höre, dass sich Paare trotz bereits lange geführter Partnerschaft nicht dazu entscheiden, zu heiraten. In solchen Fällen steht auch häufig das Urteil „die sind halt noch nicht so weit“ im Raum. Ähnlich ist es beim Kinderkriegen oder besser gesagt: dessen Ausbleiben.
All dies macht deutlich, dass offensichtlich eine gesetzmäßige, lineare Entwicklung vorausgesetzt wird, die alle Menschen gleichermaßen durchlaufen. Mehr noch: durchlaufen müssen. Wenn sich ein Mensch dagegen entscheidet, eine cis-heteronormative Zweierbeziehung zu führen, liegt er – so die Logik des Ausspruchs – in seiner Entwicklung zurück. Er ist eben noch nicht so weit. Wenn sich ein Mensch dagegen entscheidet, Kinder in die Welt zu setzen, ist das in dieser Denke gleichermaßen Ausdruck eines Entwicklungsdefizits. Jede Abweichung davon kann im Zweifelsfall als „Phase“ gesehen werden, die auch vorübergeht. Spätestens dann, wenn wieder der reguläre Entwicklungspfad eingeschlagen ist.
Das Problem liegt auf der Hand. In dieser Bedeutungsdimension dient die Phrase dazu, Lebensrealitäten und -entwürfe in normale und anormale, in gute und schlechte zu unterteilen. Es wird ein Narrativ gestrickt, in dem scheinbar notwendigerweise unterschiedliche Entwicklungsstadien aufeinander folgen. Verliebt, verlobt, verheiratet, sozusagen.
Fallstrick 3: Die Zeit heilt alle Wunden. Nicht.
Konzentrieren wir uns auf das Wörtchen „noch“, so wird klar, dass auf diese Weise die Zeit als Referenzgröße herangezogen wird, um den gegenwärtigen Entwicklungsstand zu beurteilen. Noch nicht so weit zu sein heißt, dass eine oder mehrere Bedingungen erfüllt werden müssen, ehe gerechtfertigterweise davon gesprochen werden, „so weit zu sein“. Die Bedingung ist in diesem Fall das Vergehen von Zeit. Dies ist aus zweierlei Gründen problematisch.
Zunächst wird dadurch behauptet, dass quasi mehrere „Zeitzonen“ existieren, da innerhalb des Gedankenmodells nur so erklärt werden kann, dass es unterschiedliche Entwicklungsstände gibt. Entweder haben die Vergleichsparteien (in der gängigen Wir-Die-Unterscheidung: Gesellschaften und ihre Untergruppierungen) ihre Entwicklung zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt begonnen oder aber die Zeit vergeht für die unterschiedlichen Vergleichsparteien unterschiedlich schnell. So ergibt sich eine recht eigentümliche Trennung zwischen der Wir- und der Die-Gruppe: Nicht (nur) die Dimension des Raumes und die Sphäre kultureller Praxis trennt die Gruppen, sondern auch noch die Dimension Zeit.
Etwas greifbarer dürfte das zweite Problem sein: Wenn angenommen wird, dass die Bedingung der Entwicklung das Vergehen von Zeit ist, dann muss es sich bei jedem gesellschaftlichen Progress um einen Selbstläufer handeln. Die Gesellschaft hat sich noch nicht in die richtige Richtung entwickelt? Kein Problem, einfach noch mehr Abwarten. Da gesellschaftliche Realität aber immer Ergebnis menschlichen Handelns (grundlegend: Denkens) ist, kann reines Abwarten keine Änderung des status quo herbeiführen.
Fazit: Sprache ist gleichermaßen Ausdruck und Einflussgröße der Kategorien, in denen gedacht wird
„Die sind noch nicht so weit“ kann „Das ist nur eine Phase“ und „Du wirst das anders sehen, wenn Du selbst einmal $xyz bist/hast“ die Hand reichen. Du kannst Dich an dieser Stelle ja einmal fragen, was es mit Dir angestellt hat, als Dir zuletzt gesagt wurde, dass Du „das alles anders sehen wirst, wenn Du erst mal selbst Kinder hast.“ Baut einen ganz schönen Erwartungsdruck auf, nicht? All diese Phrasen üben die Wirkung aus, Lebensrealitäten und -entwürfe zu legitimieren oder delegitimieren. Indem Lebensrealitäten unter Berücksichtigung des Faktors Zeit als notwendig-so-zu-sein-habend imaginiert werden, stützen sie jene Kategorien, in denen soziale Realität aufgefasst wird, wie z.B. normal/anormal, richtig/falsch, gut/schlecht. Denn davon abzuweichen heißt, nicht mit dem Entwicklungsplan schritt zu halten, zurückzuliegen, minderwertig zu sein, zu unterliegen. Allerdings ist Sprache gleichermaßen Ausdruck und Einflussgröße der Kategorien, in denen gedacht wird. Indem auf sprachlicher Ebene die der Aussage zugrunde liegende Logik angegriffen wird, kann der Konstruktcharakter von „Die sind noch nicht so weit“ in die Augenscheinlichkeit gezwungen werden. Dadurch, dass dieser Äußerung etwas erwidert wird, kann erläutert werden, dass menschliches Verhalten von Relativitäten durchzogen ist und es sich bei ihnen mitnichten um Naturgesetze handelt.
Zumindest gilt das alles für die Äußerung im Präsens. Mit relativer Sicherheit können aber Präteritalformen genutzt werden, ohne dass damit notwendigerweise einer der oben genannten Punkte zutreffen muss. Sowohl „Wir“ als auch „Die waren noch nicht so weit“ ist eine zulässige Aussage, da sie sich auf Gewesenes beruft. Es werden Vergleiche angestellt zwischen So-Gewesenem und anderem So-Gewesenem oder sogar So-Seiendem. Es findet eine Vergangenheitsinterpretation statt, es wird der Versuch unternommen, Sinn oder gar Gesetzmäßigkeiten zu finden, die dafür verantwortlich waren, dass das Gewesene in die konkrete Ausprägung dessen, was ist, überführt wurde. Mit einem Wort: Geschichte.