Warum Erinnerung mehr ist als Denkmälersetzen

Morgen jährt sich die sog. Reichskristallnacht zum 74sten mal. Anlass genug, sich einmal Gedanken darüber zu machen, welche Rolle dieses Ereignis für die (deutsche) Gesellschaft von heute spielt.

Ich weiß, ich sollte es nicht tun. Es gibt gewisse Dinge, von denen man einfach weiß, dass sie einen aufregen. Aber nichtsdestotrotz schafft man es dann doch nicht, einen Bogen um solche Sachen zu machen. In meinem Fall betrifft dies das Forum eines Onlinemediums aus den Tiefen des Hohen Odenwaldes. Godwin’s law wird dabei regelmäßig übererfüllt, keine Stammtischparole ausgelassen und die Rechtschreibung erst…

Aber seisdrum. Der springende Punkt ist, dass ein Zusammenschluss der ortsansässigen Gewerbetreibenden die Idee hatte, eine Art winterliches Einkaufsspektakel in der Vorweihnachtszeit zu veranstalten, das unter dem Namen „Feuer und Flamme“ stattfinden sollte. Als Datum wählte man dafür den 09. November.

Den 09. November? War da nicht was? 09. November, 09. November…wenn nur der Geschichtsunterricht nicht so lange her wäre. Achja, genau! Mauerfall. Wie? Ob da noch was war? Ja was denn?

Man sollte meinen, dass Menschen im besten Alter eine Schulbildung genossen hätten, die ihnen vermittelt hat, dass sich am 09. November 1938 die Reichspogromnacht zugetragen hat. Zwar bei weitem kein Wendepunkt in der systematischen Unterdrückung und Entrechtung der jüdischen Bevölkerung des dritten Reichs, aber zumindest ein vorläufiger Höhepunkt. Ein Vorgeschmack dessen, was noch kommen sollte. Es zeugt von Geschmacklosigkeit oder zynisch wirkender Ignoranz genau an diesem Datum eine Veranstaltung unter dem Namen „Feuer und Flamme“ laufen zu lassen. Doch als wäre das noch nicht schockierend genug, musste auch noch eine Diskussion in besagtem Forum entbrennen, ob und in welchem Maße Kritik am Veranstalter zulässig sei. Das erschreckende an der Debatte sind die Argumente, die in ihr vorgebracht werden. Noch viel erschreckender ist, dass diese Argumente immer wieder fallen. Immer, wenn es darum geht, das Andecken an die Vorgänge im und die Opfer und Folgen des NS-Regimes wachzuhalten.

Sinngemäß wird dann immer versucht zu bagatellisieren: „Wenn man an jedem Tag Trauer tragen müsste, an dem mal irgendwo irgendwas schlimmes passiert ist, könnten wir uns ja gleich beerdigen lassen.“ Oder mit „Das ist doch schon so lange her, was haben wir denn damit zu tun?“ Oder mit: „Man muss doch die Geschichte auch einmal ruhen und Gras über die Sache wachsen lassen.“

Bei allem was recht ist, aber das ist Bullshit! Leider ist es bittere Wirklichkeit, dass tagtäglich Menschen sterben, die es nicht müssten, weil ihnen irgendwie geartetes Unrecht widerfährt. Aber die Reichspogromnacht war nicht nur eine Randerscheinung der Weltgeschichte, oder ein tragischer Einzelfall. Die Vorgänge des 09. November 1938 hatten System. Sie waren Vorbote eines perfiden Verbrechens, wie es die Menschheit bis dahin noch nicht und seither nicht wieder erlebt hat. Wer sagt, dass die „Reichskristallnacht“ in keiner Weise anders zu bewerten ist, als sonst irgendein unglückliches Ereignis, ist entweder grenzenlos dumm oder grenzenlos ignorant. Vielleicht auch das eine, weil das andere.  Es besteht ein massiver qualitativer Unterschied zwischen beispielsweise einem Flugzeugabsturz, der sich wegen menschlichem Versagen ereignet hat und der durch aktive Teilhabe oder ausgebliebenen Widerstand der Bevölkerung scheinbar legitimierten, systematisch organisierten Diskriminierung, Entrechtung, Vertreibung, Schändung und letztlich Ermordung einer Ethnie.

Es stimmt, dass meine Generation und die meiner Eltern keine Mitschuld am Holocaust trägt. Wie können sie es auch, wenn sie erst nach Kriegsende geboren wurden. Aber das bedeutet nicht, dass man deswegen „aus dem Schneider“ ist. Im Gegenteil! Es ist der Auftrag aller heute Lebenden, die Erinnerung wachzuhalten. Nicht um der Erinnerung Willen. Denn nur um einmal im Jahr betroffen und gesenkten Hauptes an einem Denkmal oder einer Erinerungsstätte vorbeizuschlurfen, hätte Berlin kein Holocaustmahnmal gebraucht. Wir brauchen keine demonstrative Selbstgeißelung. Denn auch wenn wir es uns noch so sehr wünschen, können wir das Geschehene nicht Ungeschehen machen. Die Vergangenheit liegt nicht in unseren Händen. Aber die Zukunft sehr wohl! Und auf diese zielt auch unser Auftrag. Wir sind verpflichtet dafür Sorge zu tragen, dass sich so etwas wie der Holocaust weder quantitativ noch qualitativ jemals wiederholen kann.

Dazu ist jeder von uns aufgerufen. Nicht dazu, ein halbherziges „Es tut mir Leid im Namen meiner Großeltern“ zu brummeln. Sondern selbst offenen Auges wachsam durch das Leben zu gehen, Unrecht als solches zu benennen und zu bekämpfen. Hier und heute. Es ist unsere Verpflichtung aus der Geschichte zu lernen. Nicht, sie zu wiederholen.

Autor: Herr_Samsa

Eingeschlafen - geträumt - aufgewacht - Käfer.