Vom viel zu ruhigen Hinterland

Alle Jahre wieder versuchen die ‚Freien Nationalisten Kraichgau‘ in Sinsheim mittels einer Kundgebung Menschen für sich zu gewinnen. Dabei verwenden sie gerne emotional besetzte Themen, um es den anderen Menschen (scheinbar) unmöglich zu machen, anderer Meinung zu sein, ohne selbst als Unmensch dazustehen. Auch in diesem Jahr wurde die Versammlung offiziell als „Mahnwache gegen Kinderschänder“ bezeichnet, womit nach eigener Denke ja jeder FÜR Kinderschänder sein müsse, der nicht mit den intellektuell leicht minderbemittelten Einfaltsnasen im polizeilich gesicherten Faschokäfig pathetisch-stoisch die Reichsflagge schwenkt…

Es war kurz nach elf Uhr morgens als ich mit einigen anderen engagierten Menschen aus Heidelberg in Sinsheim am Bahnhof eintraf. Erwartungsgemäß erwartete uns erwartungsvoll ein Großaufgebot an Polizisten. Voller Erwartung, versteht sich. Was ich nicht erwartet hätte, war der Umstand, dass am Kundgebungsort immer noch keine Menschenseele (auf der Seite der Gegendemonstrierenden) anzutreffen war. Lediglich einige Plakate der Grünen zeugten auf dem Platz von einer gewissen, sicherlich irgendwo vorhandenen, ablehnenden Haltung gegenüber Nazi-Gedankengut. Ansonsten: niemand. Nur ein paar Polizisten legten gemächlich Schutzausrüstung an und kontrollierten noch einmal die Absperrungen, die das Nichts auf der einen Seite vom Nichts auf der anderen Seite trennten. Ich war verunsichert. Im Vorjahr hatte sich tatsächlich ein „breites Bündnis“(TM) vor Ort eingefunden, um die Naziveranstaltung lautstark unschädlich zu machen. Und in diesem Jahr sollten wir alleine sein? Naja, bis zum genehmigten Veranstaltungsbeginn war ja auch noch eine Stunde Zeit. Und vielleicht würde die Sinsheimer Bevölkerung ja auch erst „just in time“ auftauchen, um das personelle Kräfteverhältnis geradezurücken.

Lasst es mich schonend vorwegnehmen: das ist nicht passiert. Zu den besten Zeiten war es vielleicht so, dass ein ausgeglichenes Kräfteverhältnis herrschte. Von einer Überzahl der Gegendemonstrierenden konnte aber zu keinem Zeitpunkt – noch nicht einmal mit zwei geschlossenen Augen – die Rede sein. Um wenigstens die Leute bei Laune zu halten, die sich in der Eiseskälte zusammengefunden haben, um ein Zeichen gegen menschenverachtendes Denken zu setzen, hat ein anderer engagierter Mitmensch heißes Wasser und Tee organisiert, was er in ebenfalls beschafften Bechern für umme an die Leute verteilte. Nichtsdestotrotz bleibt eine verheerende Bilanz des „zivilgesellschaftlichen Engagements“ im Raume stehen. Die Frage ist natürlich: woher kommt sie?

Wie alles im Leben scheint auch das hier multifaktoriell zu sein. Sicherlich spielen kurzfristige, strukturelle Gegebenheiten bei der Mobilisierungsquote eine Rolle. Man bedenke, dass es heute in Sinsheim Temperaturen um den Gefrierpunkt mit ordentlich Wind und leichtem Niederschlag hatte. Aber das allein kann nicht ausschlaggebend für das Fernbleiben der Menschen gewesen sein. Denn auf der Jagd nach heißem Wasser sind wir ebenfalls in einem Einkaufszentrum unterwegs gewesen. Dieses war seltsamerweise bestens(!) besucht. Darüberhinaus wurde die Öffentlichkeit auch erst sehr, sehr spät von der genehmigten(!) Kundgebung der Nazis in Kenntnis gesetzt. Das wäre nicht weiter tragisch, wäre die Entscheidung – wie uns anonyme Quellen bestätigt haben – nicht bereits am 04.03. gefallen. Das heißt, dass die Entscheidenden im Gemeinderat der Stadt Sinsheim billigend in Kauf genommen haben, die Mobilisierungszeit für Gegenmaßnahmen so kurz wie nur irgendwie möglich zu halten. Aber auch das scheint eher ein nachrangiger Grund gewesen zu sein. Ich vermute anderes:

1. Wahrnehmung der „Mitte“
Ich werde vermutlich nichts Neues von mir geben, wenn ich sage, dass irgendwie geartetes Engagement gegen Faschismus, Rassismus und Nationalismus mit einem einschlägigen Ruf behaftet ist. Die Kommentare zu entsprechenden Berichterstattungen sprechen diesbezüglich ja Bände. Denn für viele der so genannten „Politischen Mitte“ (man kann natürlich auch den eher als Kampfbegriff zu verstehenden Ausdruck des „Bürgertums“ verwenden, wenn man lustig ist) steht es außer Frage, dass sich ja ohnehin nur Linksextreme an Gegendemos beteiligen würden. Schließlich sei es ja die viel bessere Lösung, die Nazis einfach zu ignorieren. Zumal man dann ja auch niemandes demokratisches Recht verletzen würde. Ähm- nein. Was das letzte Argument betrifft, sei nur einmal auf einen meiner vorherigen Blogposts verwiesen.
Nazis wegignorieren klappt nicht. Liebe Gesellschaft, das hast du über zwanzig Jahre lang versucht. Das Ergebnis war eine durch die Republik reisende, fleißig mordende und unentdeckt operierende rechtsextreme Terrorgruppe. Für die Nazis ist es längst ein Kampf um die Köpfe geworden. Jeder einzelne Kopf zählt für sie dabei. Es geht ihnen gar nicht darum, auf einen Schlag möglichst viele zu erreichen. Sie versuchen durch Beständigkeit immer wieder aufs Neue, die verunsicherten „Systemverlierer“ zu rekrutieren. Und jeder Kopf der aus der Zivilgesellschaft zu den Nazis abwandert ist ein Armutszeugnis mangelnden zivilgesellschaftlichen Engagements! Es ist hier also auch kontraproduktiv, sich einbringende und engagierende Menschen direkt als „Linksextremisten“ zu verschreien und – schlimm und oft genug – auch noch mit den Nazis auf eine Stufe zu stellen. Begreift doch endlich, dass NPD-Kundgebungen und Gegendemonstrationen kein „Pöbelsport“ sind, an dem sich nur verblendete Idioten mit unausgeglichenem Energiehaushalt beteiligen. Jede NPD-Kundgebung ist ein Angriff auch auf eure Freiheit.

2. Sicherheitsbedenken
Eine Mutter meinte, als sich sich erkundigte, was denn hier los sei, dass dies kein Platz für ihre jugendlichen Kinder sei. Mit diesem Platz meinte sie die Kundgebung, bzw. die durch sie provozierte Gegendemo. Sie sorge sich, so meinte sie, dabei zu sehr um die Sicherheit und die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder. Herzlichen Glückwunsch, damit haben auch hier die Faschos schon gewonnen. Ich kann es ja voll und ganz nachvollziehen, wenn man seine Kinder nicht instrumentalisieren möchte (sollte man ja auch nicht). Aber das muss doch bei einem jugendlichen(!) Kind nicht der Fall sein! Hier kann man doch das Angebot mitzukommen in den Raum stellen und dem ‚Kind‘ die Entscheidung überlassen.
So erreicht man natürlich auch, dass die Menschen Demonstrationen fern bleiben: Sicherheitsbedenken schüren. Das lustige daran ist, dass das ja auch die Nazis aktiv tun. Dort ist es Usus dadurch eine Bedrohungskulisse zu errichten, dass die Reihen der Gegendemonstrierenden und Polizisten fotografiert und gefilmt werden. Die Botschaft dahinter: „Wir wissen, dass du gegen uns bist. Und wir wissen, wie du aussiehst. Vielleicht wissen wir auch, wer du bist und wo du wohnst. Pass lieber auf, wer nachts im Dunkeln hinter dir läuft…“ Hier mangelt es ganz konkret an Solidarität in der Gesellschaft. Die einen zeigen Zivilcourage und lassen sich nicht von den Nazis einschüchtern. Die anderen zeigen sich von solchen Drohgebärden beeindruckt und bleiben zu Hause. Somit gestehen sie den Nazis eine gewisse Macht zu. Und die wissen das. Leider handelt es sich bei den „Machtbefugnissen“ von Zivilgesellschaft und Nazis um ein Nullsummenspiel: mehr für den einen ist nur durch weniger für den anderen möglich. Durch ein gemeinsames und gemeinschaftliches (ergo: solidarisches) Auftreten und Agieren der Zivilgesellschaft nimmt man den Nazis eine ihrer wichtigsten Waffen: ihr psychologisches Drohpotential. Dieses (das Drohpotential) funktioniert nach terroristischer Funktionslogik: einfach dem Gegenüber klar machen, dass man es jeder Zeit treffen und verletzen könnte und der einzige wirksame Schutz dagegen der Übertritt zur eigenen Meinung ist.

Auch und gerade deshalb:
Kein Fußbreit!

Autor: Herr_Samsa

Eingeschlafen - geträumt - aufgewacht - Käfer.

2 Gedanken zu „Vom viel zu ruhigen Hinterland“

  1. Nazis wegignorieren …
    Frage mich, ob die Leute das wohl auch bei Läusen tun täten. „Och, ich hab mordsmäßig Läuse uffm Kopp, is ja schon irgendwie voll scheiße, aber hey, vielleicht haun die ab, wenn ich sie ignorier, HÖHÖHÖ!“
    Hrmpf. (Beschweren darf ich mich nicht einmal wirklich, ich war nämlich auch nicht in Sinsheim.)

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