„Vier von fünf Deutschen wünschen sich mehr Videoüberwachung“ – Gesellschaft, seriöslich?!

Mich hat es fast aus den Latschen gehauen, als ich diese Meldung bei sz-online entdeckt habe. Offensichtlich reicht es aus, eine Bombe an einem bundesdeutschen Bahnhof zu finden, um die Bevölkerung dermaßen in Angst und Schrecken zu versetzen, dass sie sich zu 81% die nahezu vollständige Videoüberwachung des öffentlichen Raumes wünscht. Ich stelle nun also die meiner Meinung nach berechtigte Frage: Gesellschaft, seriöslich?!

Ich muss zugeben: das saß. Seit über zwei Jahren versuche ich als Pirat den Menschen da draußen ein Problembewusstsein einzuimpfen. Dafür, dass jemand, der ihre Grundrechte einschränken möchte, sich nicht mit einem freundlichen „Hallo, ich möchte Ihre Grundrechte einschränken“ ankündigen wird, sondern es einfach unter fadenscheinigen Begründungen und/oder im Verborgenen tut. Dafür, dass die Einschränkung der Grundrechte nicht offensichtlich in Form eines Gesetzes à la „Die Privatsphäre wird zum 01.01.2013 abgeschafft“ in Erscheinung treten wird, sondern entsprechende Regelungen indirekt erfolgen können. Dafür, dass die Bedrohung viel weiter reicht und tiefer verwurzelt ist, als ihnen bewusst sein dürfte. Und dann das. Nicht nur, dass die Deutschen teilnahmslos dabei zuschauen, wie Vater Staat die Überwachungskameras in der Öffentlichkeit anbringt, nein, sie stehen noch daneben und sagen freudig erregt: „Da fehlt noch eine!“

Aber warum sagen sie das? Warum wollen sie eine Totalüberwachung des öffentlichen Raumes? Ist ihnen denn nicht bewusst, dass sie damit jenseits ihrer Wohnung (sofern sie keinerlei Telekomunnikationsmedien verwenden, versteht sich) zum gläsernen Bürger werden? Die traurige Antwort: höchswahrscheinlich schon. Ich kann mir da nur drei Erklärungsansätze vorstellen.

Ansatz 1: „Aber ich hab doch nichts zu verbergen!“

Wir Deutschen sind international dafür bekannt, ziemlich regelversessen zu sein. Wir fürchten den Untergang der Welt weniger als die Vorstellung, ein noch so winziger Teilbereich des Lebens in ihr könnte nicht strikt durchreglementiert sein. Darüberhinaus haftet den Deutschen auch nicht unbedingt der Ruf an, besonders verständnisvoll und barmherzig zu sein. Nun, das würde ja passen. Denn das Konzept der „Gnade“ ist dem durchschnittlichen Bundesbürger fremd, vor allem, wenn es sich um einen Regelbrecher handelt. Dann bildet sich bei ihm schon mal Schaum vorm Mund, wenn es doch tatsächlich jemand wagen konnte, eine Regel – womöglich mutwillig – zu missachten. Und dann kann auch keine Strafe hart genug sein, um den Missetäter zurechtzuweisen, denn er habe es ja „nicht anders verdient“. Im Gegensatz dazu steht natürlich der kreuzbrave Steuerzahler, der sich seine eigene Integrität dadurch beweist, dass er schonungslos mit den nicht ganz so integren Gestalten ins Gericht geht. Und genau hier fällt dann das „Aber ich hab doch nichts zu verbergen“-Argument.

Wenn bei einem Infostand, o.ä., jemand damit argumentiert, gibt es die beliebte Strategie, Vergleiche anzustellen. „Würden Sie mich beispielsweise in Ihre Handtasche schauen lassen? Sie haben doch bestimmt Vorhänge in Ihrem Schlafzimmer? Benutzen Sie in Schwimmbädern die Umkleidekabinen?…“ Oftmals kann man damit den Menschen aufzeigen, dass sie eben doch ein Konzept der Privatspähre haben und sie begreifen, dass es sich bei dieser um ein durchaus schützenswertes Gut handelt. Dann gibt es aber auch die hoffnungslosen Fälle, die nicht ihre Privatsphäre, sondern den unwiderlegbaren Beweis ihrer Integrität für das höchste Gut halten. Dabei opfern sie dann mit fast schon aggressiver Bereitwilligkeit Ersteres für Zweiteres.

Ansatz 2: „Aber es dient doch der Sicherheit!“

Sollte der frisch gebackene Videoüberwachungsbefürworter ein Konzept der Privatsphäre haben, ließe sich seine Haltung womöglich dadurch erklären, dass er allen Ernstes glaubt, er könne dadurch die Sicherheit im öffentlichen Raum erhöhen. Nehmen wir einmal an, er tut das, weil er ein entsprechend unkritischer Zeitgenosse ist und somit die in den Medien verbreitete Hauptargumentation nun ebenfalls vertritt. Dann besteht ja durchaus die Hoffnung, dass man ihn durch Konfrontation mit anderen Diskussionsargumenten vom Befürworter zum Gegner machen könnte. Kann man das nicht, ist davon auszugehen, dass man es mit einem Märtyrer zu tun hat. So nach dem Motto: „Es passt mir zwar nicht, aber wenn es der Sicherheit dient, muss man eben Opfer bringen. Auch wenn es weh tut…“ Und schließlich besteht bei der sichtbaren staatlichen Überwachung des öffentlichen Raumes ja auch ein signifikanter Vorteil gegenüber des Stasi-Horrorszenarios, das in der gesamtdeutschen politischen Meinung doch Konsens zu sein scheint: sie lässt keinen Zweifel darüber, ob man eventuell beobachtet/belauscht werden könnte, oder nicht. Diese Form der Überwachung ist berechenbar und wer sich in die Öffentlichkeit begibt, weiß genau, worauf er sich einlässt. Es sei denn, er hat „was zu verbergen“

Ansatz 3: Rache ist wichtiger als Prävention

Ich hoffe wirklich nicht, dass es so ist. Sollte sich dieser Ansatz doch bewahrheiten, dann bete ich wirklich für den Weltuntergang. Aber es wäre auch denkbar, dass die Menschen, die die flächendeckende Videoüberwachung fordern ein Konzept der Privatsphäre haben, „Märtyrer“ sind, die Gegenargumente kennen und ihnen Bedeutung beimessen, aber sich dennoch nicht überzeugen lassen. Das heißt, dass diese Menschen ganz genau wissen, dass Videoüberwachung überhaupt keine Straftaten verhindert. Den Taschendiebstahl in der Fußgängerzone nicht, die Körpferverletzung an der U-Bahnhaltestelle nicht, den Terrorakt am Bahnhof nicht und den Amoklauf in der Innenstadt nicht. Aber dennoch sind sie für die Videoüberwachung. Warum? Das lässt nur die Schlussfolgerung zu, dass der Nutzen der Videokameras immer noch höher eingestuft wird, als alle „Kosten“. Dieser Nutzen liegt nicht in der Prävention, sondern in der Möglichkeit zur Verbrechensaufklärung. Die Verbrechensaufklärung und die damit einhergehende Sanktionierung ist nichts anderes als staatlich organisierte Rache. Sprich: dem Befürworter ist es wichtiger, den Drahtzieher hinter einem Terrorakt identifizieren, verfolgen und bestrafen (sich also an ihm rächen) zu können, als den Terrorakt von vorneherein zu verhindern.

Wie kann man denn nur? Prävention ist natürlich sinnvoll und die nachhaltigere Variante. Ich denke, dass das den meisten Menschen auch klar sein dürfte. Aber dennoch gibt es mit ihr da so ein Problem: sie ist nur langfristig wirksam, erfordert großes Engagement und eine hohe Ausdauer. Da ist das mit der Überwachung natürlich einfacher. Der Effekt der Verfolgbarkeit wird SOFORT erzielt. Man muss sich nicht großartig auf die Suche nach Auslösern, multifaktoriellen Gründen und möglichen Gegenmaßnahmen machen, sondern man hängt einfach die Kameras auf und fertig ist der Lack.

 

Ist das wirklich so? Tickt ihr tatsächlich so? Gesellschaft, seriöslich?!

Autor: Herr_Samsa

Eingeschlafen - geträumt - aufgewacht - Käfer.

Ein Gedanke zu „„Vier von fünf Deutschen wünschen sich mehr Videoüberwachung“ – Gesellschaft, seriöslich?!“

  1. Je nu, dass die Menschen auf Nahziele fixiert sind, dürfte uns allen schmerzlich bewusst sein. Fernziele sind, wie du bereits erwähntest, mitunter nur unter Anstrengung, Durchhaltevermögen und Einsatzbereitschaft zu erreichen – aber egal, wie groß die Anstrenung ist, durch den nicht zeitig sichtbaren Erfolg nehmen wir Außenstehende kaum Notiz.

    Mit S21 verhielt es sich doch ebenso. Jahre zuvor, als das Projekt vorgestellt wurde, hat keiner (oder haben nur wenige) gemuckt – weil, die Sache war einfach noch zu weit entfernt, um sie als Bedrohung wahrzunehmen. Und als es dann so weit war, haben sie alle die Hände überm Kopf zusammengeschlagen. Äh. Ja.

    Im Falle der Videoüberwachung wäre besagte Kurzsichtigkeit letzten Endes auch ein Stück Bequemlichkeit, stimmt. Prävention ist i. d. R. aufwendiger denn „Vendetta! Farfalla vendetta!“.
    Wie schaut das nun eigentlich mit ye good olde Londinium aus? Ich glaube mich zu erinnern, dass wir hier ein Beispiel für erhöhte Videoüberwachung öffentlichen Lebens haben. Oder verwechsle ich da wieder mal was?

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