Ich habe Visionen – muss ich jetzt zum Arzt?

Manchmal frage ich mich ja schon, was Helmut Schmidt so Herausragendes getan hat, dass ihm die Deutschen dermaßen zu Füßen liegen. Sicher: Sturmflut, RAF, Tabakkonsum, Alter. Ein Original mit „klarer Kante“. Das mag der Deutsche als solcher ja schon recht gerne. Vor allem, wenn es dann auch noch Zitierfähiges absondert, wie etwa „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“…

Ich bin es wirklich leid, dass in jeder Diskussion irgendwann der Punkt erreicht ist, an dem mein Gegenüber die Pragmatismuskeule auspackt. Das geschieht dann in Form von Sätzen wie „Das geht ja vollkommen an der Realität vorbei!“ oder „Das ist doch total weltfremd!“ Versteht mich nicht falsch: mich kekst dabei nicht an, dass jemand anders eine andere Meinung vertritt als ich; davon lebt ja schließlich eine Diskussion. Was mich ankekst ist das Beharren auf einem vermeintlichen Wesen DER WELT (TM), das der andere zur absoluten Determinanten erhebt und zu kennen vorgibt.

Dem liegt nämlich entweder ein logischer Fehlschluss oder nur ein ultrakonservatives Weltbild zu Grunde. Beides ist meiner bescheidenen Meinung nach nicht unbedingt gut. Das Argument des anderen besagt nämlich in seinem Kern folgendes: „Dein Vorschlag ist nicht durchführbar, weil gewisse Rahmenbedingungen es gegenwärtig nicht erlauben. Eine Änderung dieser Rahmenbedingungen halte ich für unmöglich, unwahrscheinlich oder lehne sie ab.“ Wer zum Teufel sagt denn, dass ein Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist, weil es eben noch nicht Teil des status quo ist?! Diese Absicht, die Rahmenbedingungen DER WELT (TM) zu verändern, ist in der Bundesrepublik Deutschland verpönt. Das zeigt sich schon dadurch, dass jene Absicht als „Vision“ bezeichnet wird. Und an dieser Stelle wird dann immer Helmut Schmidt aufs Tapet gerollt: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“.

Das ist – wie sag ich es ? – Schwachsinn. Jedes vorsätzliche Handeln eines Menschen lässt sich auf eine gewisse Absicht zurückführen. Somit geschieht jedes „was“ aus einer „um zu“-Überlegung heraus. Und genau dieses „um zu“ ist hier Dreh- und Angelpunkt. Die Vision ist also Anlass, den status quo zu verändern, weil das Szenario der Vision gänzlich oder in einem gesonderten Teilbereich besser erscheint. Die Vision ist die Beschreibung eines Wunschzustandes, der notwendigerweise die Frage nach sich zieht, wie dieser erreicht werden kann. Somit ist die Vision nicht etwa das Gegenteil pragmatischen Handelns, so wie es die diversen Anhänger von Schmidt Schnauze glauben, sondern schlichtweg der Motor JEDES Handelns. Natürlich ist es immer unterschiedlich, wie umfassned besagte Vision nun ausfällt. Aber jeder Zustand, der vorstellbar UND wünschenswert UND nichtexistent ist, lässt sich schon als Vision beschreiben.

Wer Visionären zum Arztbesuch rät, ist meistens erschreckend unkreativ und oft nur in der Lage, in den Bahnen zu denken, die er kennen gelernt hat und sich dabei des Instrumentariums zu bedienen, das ohnehin schon sein tägliches Handwerkszeug ist. Vor allem der gemeine Deutsche neigt dazu, sich diese Denkweise zu eigen zu machen. Schließlich ist sie eine andere Form der Pfadabhängigkeit (die mag er ja besonders gerne) und erlaubt es deshalb ganz exakt zu kalkulieren. Aber genau darin liegt auch das große Problem des Pragmatismus (Pragmatismus ist NICHT gleich pragmatischem Handeln): er verhindert jede Veränderung.

Vergleichen lässt sich das in etwa mit der Zubereitung eines Pfannkuchens. Der Schmidtianer kennt nur die Schritte Teig anrühren, in heiße Pfanne geben, backen und wenden. Das funktioniert natürlich eine Weile ganz gut. Und zwar bis zu dem Punkt, an dem der Pfannkuchen genussbereit ist. Dann merkt der Schmidtianer, dass der Pfannkuchen langsam dunkler wird, als er sich das vorgestellt hatte. Er wendet ihn dann noch ein paar mal, aber langfristig ändert das nichts daran, dass er (der Pfannkuchen, nicht der Schmidtianer) verbrennt und ungenießbar wird. Aber der Schmidtianer ist nicht alleine in der Küche. Es steht zum Beispiel noch der Pirat daneben. Er hat zwar nicht geholfen den Teig anzurühren und zu backen (dazu war er noch zu klein), aber er hat die Vision, den Pfannkuchen aus der Pfanne zu nehmen und mit Sahne, Zimt und Früchten zu verfeinern, was er dem Schmidtianer mit dem Pfannenwender in der Hand natürlich sagt. Dieser aber meint nur: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“ und wendet demonstrativ und mit Nachdruck den Pfannkuchen noch ein paar mal. Der verbrannte Lappen, der ein Pfannkuchen hätte werden sollen, schmeckt dann natürlich keinem. Aber immerhin ist man keine Experimente eingegangen und hat sich auf Erfahrungswerte berufen.

In einer sich beständig ändernden Welt können Herangehensweisen nicht einmal erdacht und bis in alle Ewigkeit angewandt werden. Irgendwann ist kein Lösungsansatz mehr adäquat. Und nur dadurch, dass man beständig dieselben Lösungsansätze anwendet, erreicht man nicht, dass das Problem, das man zu lösen versucht, konstant bleibt.

Auch ich habe Visionen. Ich habe die Vision von transparenter Politik, die Vision einer politisch gebildeten und interessierten Bevölkerung, die Vision humanistisch gestalteter Gesetze und Verordnungen, die Vision eines bedingungslosen Grundeinkommens, die Vision von bürgerlicher Freiheit, die nicht vor dem Staat beschützt, sondern von dem Staat geschützt wird, die Vision einer toleranten, pluralistischen, diskriminierungsfreien und inklusiven Gesellschaft und die Vision von Piraten im Bundestag. Und nein, ich gehe nicht zum Arzt. Ich handle.

Autor: Herr_Samsa

Eingeschlafen - geträumt - aufgewacht - Käfer.

Ein Gedanke zu „Ich habe Visionen – muss ich jetzt zum Arzt?“

  1. DIE WELT (TM). *nick*
    Entschuldige, aber das musste ich zunächst loswerden. Des Amüsements wegen. Als ich das gelesen, hatte ich gleich wieder ein Grinsen in der Backe.
    Das Thema an sich ist dann wieder weniger amüsant, als vielmehr deprimierend. Mir war nie wirklich bewusst, wie sehr sich ein Großteil der Bevölkerung gegen Visionäre sträuben, sofern selbige nicht ein Garant für Geldeinnahmen ungeahnter Ausmaße zu null Ausgaben geben können. Kann ich nur wieder darauf zurückführen, dass ich meine Umwelt und das alltägliche Geschehen an mir vorbeiziehen lasse, um mental nicht völlig abzustürzen. (Siehe auch: Das Haus, das Verrückte macht, bekannt aus Asterix & Obelix. Lässt sich einwandfrei übertragen.)

    Ach, Deutschland, Deutschland (HRRDN, haha). Jemand soll dir die Schaufel wegnehmen, mit der du dir dein Grab schaufelst.

Kommentare sind geschlossen.