Die Piraten: Das große Wundenlecken

Mal ein Blogpost aus der Vergangenheit. Da WordPress es ja zulässt, Beiträge gezielt automatisch zu veröffentlichen, habe ich mal meine Gedanken zu dem von mir erwarteten Wahlausgang der Bundestagswahl 2013 und deren Bedeutung für die Piratenpartei niedergeschrieben. Zugeschnitten auf den Fall, dass die PIRATEN an der 5%-Hürde hängen bleiben. Sollte ich mich geirrt haben, wäre es eher erfreulich als peinlich. Ach so, heute ist der 08. September 2013…

Der Traum ist aus.

18:00 Uhr. Die ersten Hochrechnungen. Farbige Balken schnellen in die Höhe. Nur einer nicht so hoch, wie eine verhältnismäßig geringe Zahl sehr engagierter Menschen es sich wünscht. Sie warten dann noch die zweite und die dritte Hochrechnung ab, vergleichen diese Zahlen mit den alternativer Quellen und hoffen vielleicht noch einmal kurz, ehe es traurige Gewissheit ist: der achtzehnte Deutsche Bundestag wird keine Piratenfraktion haben. Der Traum ist aus. Es beginnt die Suche nach den Schuldigen. Nach den „üblichen Verdächtigen“…

Das „Ponader-Problem“

Dieses Wording habe zumindest ich aus einem kürzlich online erschienenen Artikel einer überregionalen Tageszeitung (ich werde ihn hier nicht verlinken; wer ihn unbedingt lesen möchte, kann eine beliebige Suchmaschine einsetzen) übernommen. Ich weiß nicht, ob es auch Menschen innerhalb in der Piratenpartei gibt, die ebenfalls vom „Ponader-Problem“ sprachen/sprechen. Ja, es gab ein Problem in unserer Selbstdarstellung. Aber nein, dieses dreht sich nicht um die Person Johannes Ponaders, es ist ein strukturelles, das sich auf allen Ebenen finden ließ und immer noch finden lässt. Um es kurz zu machen: wir waren zu wenig inklusiv. Zwar sagen wir als Partei, nicht den Anspruch zu haben, nur ein bestimmtes Klientel zu bedienen, handeln aber dem zuwider. Es geht darum, die eigenen Anliegen gesellschaftlich relevant zu machen, nicht darauf zu hoffen, im Vorfeld den richtigen Strohhalm gezogen zu haben.Dem zugrunde liegt die Erkenntnis, dass man selbst eine gesellschaftliche Minderheit darstellt. Und wenn die Mehrheit eben dazu neigt, sich schnell von Menschen (und deren Meinungen) abgrenzen zu wollen, wenn diese Menschen auf sie abschreckend wirken, nützt es nichts, sie vorsätzlich unter dem Verweis auf die eigene Integrität abzuschrecken. Das hat nichts mit Anbiederung zu tun. Anbiederung ist es, wenn man sich der „Masse“ maximal angleicht, um so eine unbewusste Identifizierung mit einem Standpunkt zu erreichen. Es geht aber darum, dass Menschen zum Nachdenken gebracht werden. Und das geht nicht, wenn einem die Menschen nicht zuhören wollen. Wie war das noch gleich? Die Menschen dort abholen, wo sie stehen? Wir haben es versäumt, rechtzeitig davon loszukommen, nur Toleranz für unsere „Andersartigkeit“ einzufordern, ohne dabei der „bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft“ die notwendige Toleranz entgegenzubringen.

„Im Herzen Pirat“

Mit dem gerade Beschriebenen hängt noch ein weiteres Problem zusammen. Viele Menschen innerhalb der Piratenpartei glauben, dass von der Wahlbevölkerung eine Mehrheit „im Herzen Pirat“ sei. Aber das ist (leider) absoluter Quatsch. Dementsprechend versuchen viele Pirat*innen, nur den „inneren Piraten“ der Leute anzusprechen, den es aber oftmals nicht gibt. Meiner Meinung nach ein klassischer Projektionsfehler; ich bin so, also sind andere auch so. Andere sind aber – per definitionem – in erster Linie anders als man selbst. Und was die Leute im Herzen sind, zeigt sich, wenn sie getriggert werden. Wenn wir uns den alltäglichen Rassismus, den alltäglichen Sexismus, den alltäglichen Ableismus, die breite Legitimität des „Das wird man wohl noch sagen dürfen“ anschauen, sehen wir, wie tief Ängste und daraus resultierende Ressentiments verankert sind. Und das findet man im Herzen vieler Menschen wieder. Egal ob als Bürgerinitiative in Marzahn-Hellersdorf oder als eurokritische, neurechte Partei. Im Innern ist die Mehrheit der Bevölkerung sehr weit von uns Piraten entfernt. Und unsere aufgabe ist es, sie durch Argumente zu Piraten zu machen.

„Neuland und Nerdpride“

Eine besonders hervorragende Inszenierung dessen stellte #Neuland dar. Ja, auch ich habe mich daran beteiligt, mich an Angela Merkels Ignoranz zu echauffieren und habe sie als technische Unkenntnis verhöhnt. Das war aber falsch. Ohne Mehrheitsverhältnisse zu kennen oder zu benennen sollte feststehen, dass es Menschen in Deutschland gibt, die mit dem Internet nicht viel am Hut haben. Sie als „Internetausdrucker“ zu bezeichnen zerstört jede Inklusivität. Wir geben uns keine Mühe, sie an das Internet heranzuführen, ihnen die von uns hoch gelobten Vorzüge zu zeigen. Wir sagen immer nur „Internet ist Chance, kein Risiko“ ohne dabei aber praktisch zu werden. Stattdessen machen wir uns über Bedenkenträger und Unerfahrene lustig. Das wird dann mit der digitalen Version von „mia san mia“ (aka „Nerdpride“) weggebügelt. Wir sind die, die glauben Ahnung zu haben und wollen die Leute ermutigen, Fragen zu stellen, schaffen aber eine Atmosphäre, die sagt, dass es eben doch dumme Fragen gibt.

„Die Medien…mimimi“

Ein weiterer externalisierter Sündenbock vieler Pirat*innen sind die pöhsen, pöhsen Medien. Schließlich seien die ja Schuld, wenn man in ein schlechtes Licht gerückt dargestellt werden würde. Höchstens indirekt. Die Macht eines Mediums wird nicht durch die Qualität seiner Berichterstattung, sondern durch Reichweite (daher auch „Meinungsmacht“) definiert. Eine hohe Reichweite erhält man durch eine große Leserschaft. Und da man diese in einem marktwirtschaftlichen Umfeld erreichen muss, geschieht das über den Absatz seines journalistischen Erzeugnisses, sein Produkt. Es ist nicht zwingend das beste Produkt, das einen großen Marktanteil erhält, sondern das beliebteste. Und hier muss man sich fragen, ob es an den Medien liegt, wenn sie einen Journalismus liefern, den eine nicht zu verachtend große Bevölkerungsgruppe nachfragt. Selbstverständlich kann man daraus auch ein Henne-Ei-Problem konstruieren (Woher sollen denn die Konsumenten etwas anderes wollen, wenn sie nur das kennen?), ich glaube aber, dass das ein tiefgreifenderes, kulturelles Problem ist. Aber unabhängig davon: Kritik an der Piratenpartei, ihrem Programm, ihrem Personal und ihrer Art und Weise, Politik zu machen sind durchaus gerechtfertigt. Nicht jede, natürlich. Aber jede ist in jedem Fall ein Apell dazu, sich möglichst sachlich mit diesr Kritik auseinanderzusetzen. Verschwörungstheorien, dass „die Piraten“ durch „die Medien“ klein gehalten werden, sind abzulehnen. Menschen, die von „den Systemmedien“ sprechen, aus der Partei auszuschließen.

„Die Piratenpartei wurde von hinten erdolcht“

Es ist unangenehm, seine eigenen Fehler zu suchen. Es ist unangenehm, vor anderen einzugestehen, dass man Fehler gemacht hat. Wahrscheinlich deshalb ziehen viele Pirat*innen es vor, beides gar nicht erst zu tun und sich stattdessen von jenen Menschen den Rücken stärken zu lassen, die die eigene Meinung teilen. Zum Beispiel dürfte es nicht lange dauern, bis zum ersten Mal die Forderung „sich wieder auf die Kernthemen zu besinnen“ kommt. Jene, die „schon immer“ gegen ein Vollprogramm waren, dürften jetzt dann auch mit ihrem persönlichen „hate to say I told you so“ fünf Minuten Befriedigung erfahren. Nur leider ist das nicht so einfach. Man kann Parteien nicht als „Kompetenzteams“ wählen. Also nix mit „Für Netzpolitik die Piraten ins Parlament, für die Umwelt die Grünen, für die Wirtschaft die FDP, für das Soziale die Linke und CDU und SPD dürfen sich beim putzen um den Besen streiten“. Warum? Weil die Umsetzung jeder politischen Forderung mit Ressourceneinsatz verbunden ist, in Form von (letztlich) Geld oder auf dem Weg dorthin Abgeordnetenstimmen, da die Gesetzgebung Aufgabe des gesamten Parlaments ist. Inhaltliche Fragen sind interdependent und bei der Aufteilung in „Kompetenzteams“ nicht kohärent bearbeitbar, da die Interessen der einzelnen Teams sich auch diametral gegenüber stehen können. So viel zu den Kernthemen.

Jedefalls dürfte die interne Sündenbocksuche auch vor jenen Menschen in der Piratenpartei nicht Halt machen, die von anderen als „linksgrünen Gutmenschen“ und „Feminazis“ bezeichnet, bzw. verleumdet werden. Aber auch das wären „einfache Antworten“. Zu einfache Antworten, als dass sie zutreffen könnten. Und ich halte es für äußerst problematisch, wenn man jetzt anfängt, parteiintern seine eigene Dolchstoßlegende zu stricken. Als Partei sind wir darauf angewiesen, miteinander für unsere Ziele zu kämpfen. In mehr als nur einem Bereich. Sollte das nicht gegeben sein, kann man sich das mit der Partei schenken.

„Die Eier legende Wollmilchsau der Politik“

Auf uns lastete ein unglaublicher Erwartungsdruck. Oft haben wir diesen gar nicht als solchen wahrgenommen. Bei den traumhaften Ergebnissen der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 haben wir uns eingeredet, nicht nur aus Protest, sondern in erster Linie aus inhaltlicher Positionierung heraus gewählt worden zu sein. In der Berichterstattung hieß es, dass wir „frischen Wind“ in den Politikbetrieb bringen würden. Was das wirklich heißt, haben wir uns allerdings nicht bewusst gemacht. Natürlich gibt es in der „politischen Arena“ vieles, was den Menschen sauer aufstößt: das Gefühl der Machtlosigkeit, das entweder durch institutionelle Gegebenheiten (Wahl nur alle vier Jahre) oder durch nicht eingehaltene Wahlversprechen entsteht, das daraus resultierende Gefühl, übergangen zu werden, Berichte über Seilschaften unter den Mächtigen, Korruption, Fehler, die über Parteigrenzen hinweg gemacht werden, etc. etc. Und auf einmal kamen wir daher. Wir waren unbelastet, weil wir noch nie in Regierungsverantwortung waren. Wir haben keinen Hehl daraus gemacht, keine Ahnung von den parlamentarischen Gepflogenheiten zu haben. Man glaubte uns, weil unsere Ehrlichkeit auch bedeutete, die eigenen Schwächen und Fehler als solche einzugestehen.

Aber daraus ist auch ein enormer Erwartungsdruck entstanden, dem wir als „lernende“ Partei unmöglich stand halten konnten. Wir sollten auf einen Schlag alle Fehler der repräsentativen, parteiengestützten Demokratie beheben. Das Tragische daran: wir haben die Leute auch noch in diesem Glauben gestärkt. Wir haben es zugelassen, dass sich unser Kampf für Liquid Democray* verselbstständigt hat und wir an das Konzept messianische Erwartungen gestellt haben.

„Lernbereitschaft und Resignation sind unvereinbar“

Und wie schaut jetzt die Perspektive aus? Ja, das war eine große Realitätsohrfeige. Und ja, sie war notwendig. Ja, jetzt als Partei etwas zu erreichen wird schwieriger. Ja, jetzt als Piratenpartei etwas zu erreichen wird schwiriger. Aber wer die Welt, in der * lebt ändern will, darf nicht resignieren sondern muss lernen und sich weiterentwickeln. Einen gesellschaftlichen Diskurs errichtet man nicht dadurch, dass man sich mit Seinesgleichen zurückzieht, sich auf die Schulter klopft und sich darin bestärkt, als einzige in einem Heer der hirnlosen Schafe das einzig Richtige zu tun erkannt zu haben. Es nützt uns nichts, auf Zeit zu spielen, denn unsere Zeit ist längst gekommen. Zeit sich darauf zu besinnen, dass man es nicht mit sachlichen, immer rationalen, umfänglich informierten Apparaturen zu tun hat, sondern mit Menschen. Und um die sollte sich unser Handeln drehen.

 

* = Ich weiß, dass nirgendwo in Stein gemeißelt ist, was Liquid Democracy eigentlich ist und/oder sein sollte die Meinungen darüber weit auseinander gehen. Danke.

Autor: Herr_Samsa

Eingeschlafen - geträumt - aufgewacht - Käfer.