tl;dr: Bitte sagt doch in Diskussionen nicht mehr einfach bloß Bürger. Ohne Weiteres weiß nämlich kein Mensch, was (und vor allem wer) damit gemeint ist. Das führt doch zu nix…
Eigentlich ist es ja schon witzig…
Für Außenstehende kann es ein durchaus lustiges Phänomen sein: A gebraucht ganz selbstverständlich ein bestimmtes Wort und meint damit unmissverständlich den eigenen Standpunkt wiederzugeben und zu transportieren. B fasst dieses Wort ganz selbstverständlich vor dem eigenen Standpunkt auf und reagiert womöglich in einer Art und Weise, wie A es nicht vorhergesehen hätte oder nachvollziehen kann. Ein Missverständnis also, das daher rührt, dass das fragliche Wort wohl doch nicht so unmissverständlich war, wie vor der Benutzung angenommen wurde. Hat ein Wort (bei gleicher Schreibweise) mehrere Bedeutungen (bspw. Pony als kleines Pferd oder irgendwas mit Haare) oder ist sonst irgendwie unein- oder mehrdeutig, spricht eins von Polysemie. Und Polyseme in Diskussionen sorgen in den meisten Fällen eher für Unbehagen auf allen beteiligten Seiten. Unterhalten sich Menschen einfach bloß so, dann können Polyseme belustigende bis tragische Missverständnisse produzieren. In einer politischen Diskussion kann die Verwendung von Polysemen aber je nach Standpunkt und Diskussionsfertigkeiten der Teilnehmenden ein richtiger Schmerz im Arsch sein, da die so auftretenden Missverständnisse den Fortschritt der Diskussion selbst behindern und die Leute in ihr frusten.
Der Auslöser
Anlass, diesen Beitrag zu schreiben, war das Wörtchen Bürger. In der letzten Zeit habe ich es immmer häufiger in Unterhaltungen gesehen(!), die mittels eines bestimmten Microblogging-Diensts entstanden sind und geführt wurden. Das ging immer nur eine Weile lang gut. Nämlich so lange, bis durch die Unbestimmtheit des Ausdrucks der erste – vor dem Hintergrund des eigentlichen in der Diskussion kritischen Aspekts gar nicht mal so relevante – Dissens provoziert wurde. Das Problem mit dem Wort Bürger ist ja nicht nur, dass es mehrdeutig ist, sondern ist ganz grundlegend darauf zurückzuführen, dass es Menschen bezeichnet und darin mehrdeutig ist. Da nicht immer unmissverständlich gewährleistet ist, dass für alle Diskussionsteilnehmenden klar ist, wer gemeint ist, wenn eins Bürger sagt, kann es sehr gut passieren, dass eins glaubt, selbst gemeint zu sein, was – vor allem bei einem negativ besetzten Kontext der Begriffsverwendung – sich leicht wie ein persönlicher Angriff anfühlen kann. Und den Bürger gibt es in vielen Geschmacksrichtungen…
Die Geschmacksrichtungen des Bürgers
Mir scheint es so, als würden die meisten Leute Bürger als Synonym für Staatsbürger verwenden und interpretieren. Probleme entstehen hier in der Konzeption (und Verwendung) von Staatsbürger. Während der Begriff eigentlich nur eine Aussage über den bürokratischen Status der Staatszugehörigkeit transportiert, wird er aber oft auf eine größere Gruppe Menschen bezogen. Gemeint wird zwar oft Menschen in unserer Gesellschaft, gesagt wird aber Bürger (was den zentralen Bedeutungsaspekt von Staatsbürger fälschlicherweise auf die gemeinte Gruppe überträgt). Ich vermute dahinter ein von-sich-auf-andere-Schließen, was in einer homogenen Zusammensetzung der Unterhaltugnsteilnehmer auch kein Problem ist.
Interessanterweise wird der Bürgerbegriff von Menschen mit Amt oder Mandat auch zur funktionalen Abgrenzung gebraucht. Dort taucht der Bürger in der Bedeutung Nicht-Politiker*in oder Nicht-Beamt*e auf. Deutlich wird das anhand von Ausdrücken wie Bürgerforum, Bürgerversammlung, Bürgerbefragung, Bürgersprechstunde, bürgerliches Engagement deutlich und bezieht sich auf eben jene Gruppe, die auch gerne als Zivilgesellschaft bezeichnet wird. Fassen wir diese beiden Aspekte (Staatszugehörigkeit und Teil der Zivilgesellschaft) zusammen, können wir damit grob den Begriff des Citoyen rekonstruieren.
Andere Bedeutungsfacetten von Bürger transportieren Aspekte wie Besitzstand und politische Haltung. Klassischer Begriff dafür ist wohl der des Bourgeois. Wolfgang Weber [1] erläutert ihn wie folgt:
„[…] im 16. Jh. in Frankreich entstandener Begriff für das städtische Besitzbürgertum, […] auch pejorative Bezeichnung des unpolit. bzw. seiner polit.-sozialen Interessen und Möglichkeiten nicht bewussten Teils dieses Bürgertums.“
Besonders beliebt ist die Verwendung dieses Bürgerbegriffes in der politischen Linken eben als Hülle für den klassischen Begriff des Bourgeois, auf den sich auch Marx bezog. Der pejorative Charakter des Bürgerbegriffs wird beim Spießbürger besonders deutlich, das Adjektiv bürgerlich hingegen ist sehr kontextsensitiv, nicht selten aber genauso abwertend gemeint.
Das Bürgerkonzept kann sprachlich auch durchaus normativ verwendet werden. Verortet eins den Bürger auf dem politischen Spektrum, ist die Assoziation zur bürgerlichen Mitte vorprogrammiert. Damit einher geht auch eine implizite Bejahung der Hufeisentheorie. Suggeriert wird so, dass sich die einzig vertretbare politische Haltung in der bürgerlichen Mitte fände. Ob dort auch die sprichwörtliche Wahrheit liegt, sei an dieser Stelle einmal laut bezweifelt.
Gerade dieser Effekt lässt sich aber auch zum politischen Reinwaschen geächteter Meinungen und Gruppen verwenden – der Bürger tritt als Euphemismus auf. Musterbeispiel hierfür sind wohl die im Zuge der Asyldebatte bekannt gewordenen besorgten Bürger. Hier wird versucht, die eigene Meinung für absehbare Kritik unangreifbar zu machen, da ihr die Angriffsfläche entzogen wird. Sich lautstark über Unterkünfte von Asylsuchenden in der eigenen Nachbarschaft zu beschweren (und womöglich noch politisch gegen sie zu engagieren) führt oft zu den Vorwürfen von Sozialneid, Xenophobie und schließlich Rassismus. Wird dieses Bestreben allerdings umetikettiert, indem Aktive sich selbst als besorgte Bürger bezeichnen, ist das der Versuch, sich und der eigenen Meinung den Deckmantel der Harmlosigkeit und der Legitimität des Bürger überzustreifen.
Fazit
Ich bin mir sicher, dass ich bei weitem nicht alle Geschmacksrichtungen aufgezählt habe. Allerdings steht wohl auch fest, dass eine stand-alone-Verwendung von Bürger immer eine gewisse Grundvagheit hat, die vor allem für politische Diskussionen hinderlich ist. Oft werden Aspekte gemeint, die für das Gegenüber keine oder gar die falsche Rolle spielen. Ein hierauf aufgesetzter Diskurs ist der Bedeutungsstreit Bürger- vs. Menschenrechte. Ich glaube nicht, dass der Mehrheit der Zivilgesellschaft bewusst ist, welche soziale Exklusion sie sprachlich vornimmt, wenn sie das politische Konzept der Bürgerrechte festigt, indem sie es verbal reproduziert.
Wir müssen nicht immer Bürger sagen. Wir haben die Möglichkeit, ein anderes, unseren Absichten nach spezifischeres Wort zu verwenden. Da, wie ich versucht habe zu zeigen, Bürger so viele beliebig austauschbare Bedeutungen hat, dass der Begriff selbst hart an der Bedeutungslosigkeit kratzt, sollten wir wohl von dieser Möglichkeit Gebrauch machen.
Quelle(n):
[1] Weber, Wolfgang (2001): Bourgeois/Bourgeoisie, in: Nohlen, Dieter/ Schultze, Rainer-Olaf (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft, Band 1 A-M, Theorien, Methoden, Begriffe, S.86.