„Wir können froh sein, dass die Presse NICHT da ist…“

An manchen Tagen ist es sehr, sehr schwierig, Pirat zu sein. Nein, damit meine ich nicht jene Tage, an denen Uninformierte in der Presse direkt oder indirekt auf uns einschlagen. Damit meine ich auch keine Wahlschlappen, in denen die eigenen Erwartungen von der Realität überholt wurden. Viel schwerer zu ertragen finde ich es, wenn die eigene Partei selbst nicht die Tragweite der eigenen Position begreift, sie aber vehement von anderen einfordert. Oft ein Zeugnis der Ignoranz, wie ein Erlebnis von der gestrigen Kreismitgliederversammlung Rhein-Neckar/Heidelberg (#mvrnhd) zeigt…

Es fing an und für sich ganz harmlos an. Nachdem die Geschäftsordnung verabschiedet, Versammlungsämter gewählt, Gäste, Ton- und Bildaufnahmen zugelassen waren, konnte die eigentliche programmatische Arbeit losgehen. Es gab auch einiges zu diskutieren, da reichlich Anträge in den Händen des Vorstands angekommen sind. Eher zufällig ist uns beim routinierten Schließen der Redner(!)-Liste aufgefallen, dass der Begriff ja gar nicht so geschlechtsneutral – und somit nicht post-gender – ist, wie wir das gerne hätten. Also habe ich nach einigem Satzungs- und GO-Hickhack einen schriftlichen Geschäftsordnungsänderungsantrag eingereicht, der sämtliche Erwähnungen der „Rednerliste“ durch ein von der Versammlung zu bestimmendes, geschlechtsneutrales Wort ersetzen sollte. Stattdessen hat sich die „Redeliste“ durchgesetzt, die auch mit zehn gegen zwei Stimmen angenommen wurde.

So weit, so gut. Ich fand es nicht weiter tragisch, dass sich zwei Piraten gegen diesen Vorschlag ausgesprochen haben. Schließlich gibt es dafür viele – auch durchaus vernünftige – Gründe . Was aber gar nicht ging und wo ich mich meines nicht vorhandenen Mageninhalts hätte oral entledigen können, war, als Zwischenrufe einiger Vollidioten in der Versammlung laut wurden: „Das ist ja peinlich! Das ist doch Pipikram! Entschuldigung, aber können wir nicht was Sinnvolles machen? Wir machen uns ja lächerlich“ oder auch „Wir können froh sein, dass die Presse NICHT da ist…wir müssten uns ja schämen!“

Ich denke nicht, dass ich das (biologische) Geschlecht der dies einstreuenden Menschen explizit benennen muss. Selbstverständlich handelte es sich dabei um jene von alters her gesellschaftlich privilegierten Y-Chromosomträger, die absolut nichts daran auszusetzen haben, das generische Maskulinum zu verwenden. Das ist per se noch nicht schlimm. Schlimm wurde es erst dadurch, dass sie sich zu verstehen WEIGERTEN, dass sich jemand dadurch diskriminiert fühlen könnte(!) und es deshalb ratsam ist, diese Barriere von vorneherein aus dem Weg zu nehmen.

Es ist mir absolut NICHT verständlich, wie jemand, der sonst große Stücke auf das Bundesverfassungsgericht hält, weil es in der Lage ist, ein Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen, selbst wenn es noch nicht verabschiedet ist und sich niemand wegen persönlicher Betroffenheit darüber beklagt, eine ähnliche Beschwerde bezüglich seines Maskulinismus aber für unzulässig erkärt, gerade WEIL unter den Anwesenden sich niemand als betroffener Mensch outet.

Ja, liebe Mitpiraten, wir sollten uns alle gehörig schämen. Aber nicht deswegen, dass wir in kleinen Schritten strukturelle Hürden zur Gleichbehandlung aller Menschen auf jeder Ebene abbauen wollen, sondern weil es uns noch nicht gelungen ist, EUCH aus eurer Engstirnigkeit zu befreien und euch mit dem nötigen Problembewusstsein auszustatten.

Ihr sagt, dass wir keinen Aufholbedarf bei der Gleichberechtigung von „Männern und Frauen“* haben. Damit habt ihr auch Recht. Männer und Frauen sind in Deutschland de jure gleichberechtigt. Aber nur, weil die Verfassung das sagt, heißt das nicht, dass das auch gelebt wird. Es ist nämlich nicht damit getan, dass es irgendwo geschrieben steht. Es muss auch gelebt werden. Von jedem von uns. Immer. Und überall. Es ist nicht okay, zwar zu sagen, dass eine Frau bei der gleichen beruflichen Qualifikation genauso viel Geld wie ein Mann bekommen soll, aber sich dann darüber zu echauffieren, dass doch niemand ernsthaft ein Problem damit haben könne, wenn man aus Traditionsbewusstsein und Effizienzgründen heraus beim generischen Maskulinum bleibt…

…IHR VOLLPFÖSTINNEN!

 

* = ich möchte mit diesem Ausdruck weder suggerieren, dass soziales und biologisches Geschlecht identisch seien, noch behaupten, dass nur zwischen diesen beiden (Männern und Frauen) unterschieden werden müsste oder könnte.

Autor: Herr_Samsa

Eingeschlafen - geträumt - aufgewacht - Käfer.

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