Warum man Angela Merkel nicht „Mutti“ nennen sollte

Deutschland in Wahlkampfzeiten. Schon 2009 war das ein Phänomen für sich. Nein, damit meine ich nicht das zur Materialschlacht ausgeartete Werben um Wählerstimmen und auch nicht die Wahl der Themen, die in besagtem Ringen im Vordergrund stehen. Mir geht es – oh Wunder – um die verwendete Sprache. Vor allem die Sprache, die in Bezug auf Angela Merkel angewendet wird. Und eine Sache ist extrem problematisch daran: dass sie „Mutti“ genannt wird…

In der Linguistik gibt es das Konzept der Frames. Das sind „Rahmen“, die eine bestimmte Menge des Weltwissens beinhalten, die notwendig sind, um ein Wort in all seinen Bedeutungsfacetten und -details zu verstehen. Man könnte vereinfacht auch sagen, dass ein Frame alles umfasst, was „bei einem Wort mitschwingt“.

Nun ist es ja nicht wirklich neu, dass viele Menschen und auch die Medien Angela Merkel – ernsthaft oder zum Spaß ist hier völlig egal – als „Mutti“ bezeichnen. Aber was tun diese Menschen damit sprachlich? Welche Bedeutungsaspekte schreiben sie hier der (zum Zeitpunkt der niederschrift noch amtierenden) Bundeskanzlerin zu? Ein Versuch diese Frage zu beantworten:

Abhängigkeit. Die semantische Bedeutung von „Mutter“ (oder eben in diesem Falle „Mutti“) ist vordergründig erst einmal die, dass es sich um ein weibliches Wesen handelt, das Nachwuchs empfangen und zur Welt gebracht hat. Damit wird eine soziale Rolle aufgebaut, da die meisten Mütter (Abgrenzung: „Raben-Mutter“) sich in der Folge auch um ihre Jungen kümmern. Notgedrungen, denn es entsteht eine Abhängigkeit für den Nachwuchs, da er nicht in der Lage ist, ohne die Mutter zu überleben. Und sind wir (das Wahlvolk) von der Person Angela Merkel abhängig? Sie ist – wie alle Akteure auf der mandatsbasierten politischen Ebene – Dienstleister. Wir haben – anders als der biologische Nachwuchs – die Wahl, wen wir zur Erledigung der Regierungsgeschäfte berufen. Und hilflos sind wir ja schließlich auch nicht. Nur dann, wenn wir in die „Mutti wird’s schon richten“-Mentalität verfallen.

Implizite Dankbarkeit. „Du sollst Vater und Mutter ehren!“. Dass hier auch der Vater eine Rolle spielt, spielt für uns jetzt aber mal keine. Der jährlich wiederkehrende Muttertag institutionalisiert schon im frühen Kindesalter etwas, das man selbst oft erst im Erwachsenenalter begreift und wohl auch erst dann vollständig, wenn man selbst in die Mutterrolle schlüpft: es ist eine riesengroße Arbeit und Verantwortung, sich um einen Menschen zu kümmern, ihn zu erziehen, ihn zu beschützen. Und wenn sich eine Mutter nicht allzu fahrlässig (oder gar böswillig) verhält, sind wir ihr für diese Arbeit und die damit oft einhergegangene Bereitschaft zur partiellen Selbstaufgabe dankbar. Oft implizit. Explizit wird dies meist nur am Muttertag gemacht. Und Angela Merkel? Ja, sie hat sich seit 2005 um die Regierungsgeschäfte gekümmert und man kann ihr alleine schon für diese Bereitschaft dankbar sein. Aber das gilt somit auch für all ihre Amtsvorgänger und künftigen Nachfolger.

Immunität. Einer Mutter kann man nicht böse sein, denn „sie meint es ja nur gut.“ Egal, wie sehr ihre „Kinder“ unter ihren Entscheidungen leiden. Gerade wenn wir uns hier wieder den Vergleich zu Angela Merkel vor Augen führen, ist diese Komponente fast die gefährlichste am „Mutti“-Begriff. Eine Demokratie, in der jede Handlung damit gerechtfertigt werden kann, dass deren Urheber doch die besten Absichten hatte, kann weg. Wir beklagen uns ja jetzt schon, dass durch die Berichterstattung in den Medien die Sachebene oft auf der Strecke bleibt. Und dann entziehen wir unser politisches Personal auch noch von der Ebene, die durch Kritik erreicht werden kann? Bitte nicht.

Harmlosigkeit. „Mutti“ ist nicht dasselbe wie „Mutter“. Was die soziale Rolle betrifft sind beide Begriffe weitgehend deckungsgleich. Aber „Mutti“ hat noch so einige Zusatzkompenten. Eine davon ist die der Harmlosigkeit, da „Mutti“ eine Verniedlichungsform von „Mutter“ ist. Das ist eine Berührstelle von Syntax und Semantik: die Bedeutung von „harmlos/niedlich/possierlich“ spiegelt sich schon im Wort „Mutti“ wider. Und auch das trifft auf Angela Merkel nicht zu. Zwar ist sie kein blutrünstiger Kinderfresser und auch kein Gottkaiser, aber sie hat doch eine Machtposition inne. Und Macht, verstanden als (potentielle) Gewalt über andere ist nicht niedlich. Niemals.

Vertrautheit. Eigentlich ist das schon fast eine Frage der (linguistischen) Pragmatik. Aber nichts destotrotz ist „Mutti“ ein Kosename. Kosenamen werden verwendet, um auszudrücken, dass mensch eine besondere (oft besonders innige) Beziehung zu dem durch diesen Kosenamen bezeichneten Menschen hat. Nun nehme ich aber nicht an, dass alle Menschen, die Angela Merkel „Mutti“ nennen, auch ein in puncto persönlicher Vertrautheit entsprechendes Verhältnis zu ihr haben. Die Verwendung des Begriffs „Mutti“ suggeriert hier eine Art soziales Gütesiegel: „Ich vertraue ihr – und Sie können das auch!“

 

Natürlich kann man sagen, dass man Angela Merkel ja nur „aus Spaß“ so nennt. Aber hier kann ich mich selbst nur noch einmal wiederholen: was Spaß ist und was nicht, bestimmen letzten Endes immer Subjekt der Aussage und deren Adressat (sollten das unterschiedliche Menschen sien). Es besteht die Gefahr, dass es eben NICHT als Spaß verstanden wird, wenn Angela Merkel in die Rolle der „Mutti“ gesteckt wird. Denn ja, das tut jeder, der sie so nennt. Und wenn das vielfach wiederholt und von den Medien aufgegriffen wird, dann konstruieren wir für die Person Angela Merkel eine Rolle, die den oben genannten Eigenschaften entspricht. Und das ist Gift für die politische Kultur.

 

p.s.: Jetzt könnt ihr euch ja auch einmal Gedanken machen, was passiert, wenn man statt „Mutti“ eben „Angie“ sagt…

Autor: Herr_Samsa

Eingeschlafen - geträumt - aufgewacht - Käfer.

2 Gedanken zu „Warum man Angela Merkel nicht „Mutti“ nennen sollte“

  1. Sehr gelungene Analyse eines Phänomens.

    Um mal (in bester advocatus diaboli Manier) das ironische Nennen von Merkel als „Mutti“ in Schutz zu nehmen: man könnte allerdings auch argumentieren, dass gerade dieses Beschützend-Bevormundende, das bei diesem Spitznamen mitschwingt, ja auch für einen Politikstil steht, den man zugunsten des Konzepts des mündigen Bürgers ablehnt.

    Aber dennoch: +1

    P.S. Mir gefällt das neue Design der Käferhöhle

  2. Jau Tobi. Gerade Adlerohrens Anmerkung sollte einen davon abhalten, diese Bezeiuchnung zu gebrauchen. Da mir „Die Raute am Ende des Grundgesetzes“ jedoch schlicht zu lang ist, warte ich jetzt gespannt auf (D)einen Alternativvorschlag 😉

    X’s Lob bezüglich des Designs schließe ich mich übrigens gerne an.

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