#Bongs Tag1: Rückschau aus Anwendersicht

Ein langer, anstrengender, frustrierender, aber doch irgendwie erfüllender erster Parteitagtag geht nun zu Ende. Zeit, die Erlebnisse des Tages Revue passieren zu lassen und sich doch einmal den ein oder anderen Gedanken durch den Kopf gehen zu lassen, ob hinter den Phänomenen des Tages nicht vielleicht ein System steckt…

Um es kurz zu machen: ja. Das tut es. Zumindest in einigen Teilbereichen. Aber darauf werde ich noch eingehen. Jedenfalls haben wir es heute auf dem ersten Tag des Bundesparteitags 2012.2 (aka #Bongs aka #Ruhbings aka #bpt122) immerhin geschafft, unser Programm in den Bereichen Wirtschaft, Forschung und Gesellschaft auf– und auszubauen. Der Weg dorthin – man wird es sicherlich in den Medien gehört haben – war allerdings lang und beschwerlich. Wer Basisdemokratie praktiziert (oder zumindest den ernsthaften Anspruch an sich stellt, dem so nahe wie möglich zu kommen), wird auch im Vorfeld damit gerechnet haben, dass es auf diesem Wege eben nicht ganz einfach wird, zu einer Entscheidung zu kommen. Zumal mit der erforderlichen 2/3-Mehrheit noch eine weitere qualitative Hürde besteht. Aber besagter Weg war oft auch länger und umständlicher, als er hätte sein müssen. Dafür gibt es Gründe:

  1. Uneinheitlicher Vorbereitungsstand der Teilnehmer – Die Piraten machen sich unheimlich viele Gedanken, wenn es darum geht, Abläufe zu optimieren. Dazu gibt es natürlich verschiedene Ansätze. Einer davon war, die unglaublich teuren (zentralen) Bundesparteitage dadurch möglichst effizient zu gestalten, indem man sie wirklich (überwiegend) nur zur Abstimmung benutzt und die eigentliche Diskussion in die Zeit davor auslagert. Das ist auch ein richtiger Ansatz, allerdings krankt er nur an einer Sache: das klappt nur, wenn die Mehrheit der am Bundesparteitag Anwesenden sich auch im Vorfeld sorgfältig mit den zur Abstimmung stehenden Anträgen auseinandergesetzt hat. Leider – und das konnte man heute wieder sehen – war das dieses Mal, wie so oft, nicht der Fall. Gute Anträge wurden auf der Grundlage von Empörungsreflexen abgeschmettert. Und das zu allem Überfluss oftmals von Leuten, die den Antrag heute auch zum ersten Mal gesehen haben. Sobald diese Menschen die Mehrheit, oder eine Sperrminorität (siehe 2/3-Mehrheit) stellen, ist die ganze Vorbereitung via LiquidFeedback, Mailinglisten, Mumble, Pads, Arbeitstreffen, etc. für die Katz.
  2. Zu emotionaler Diskussionsstil – Es gibt durchaus Themen, die so relevant, brisant oder dringend sind, dass es sich nicht vermeiden lässt, dass sie emotional behandelt werden. Allerdings kann es nicht Teil unseres Selbstverständnisses als Piraten sein, dass wir uns in unserer Argumentation auf Ressentiments, Vorurteile und Pathos stützen. Leider wird das aber oft betrieben. Und leider hat auch die Darbietungsform eines Arguments mehr Gewicht, als seine inhaltliche Stellung im Diskurs. Es ist ärgerlich, dass nicht alle Piraten mit Wortbeiträgen die geborenen Redner sind. Aber dennoch sollte jeder von uns, der ernsthaft am Diskurs interessiert ist, sich zumindest bemühen, das Argument seinem Inhalt und nicht seiner Präsentation nach beurteilen. Vor allem wenn ein Wortbeitrag – sinngemäß schon mit einem: „Ich studiere ja xyz / habe meine Bachelor-/Master-/Diplom-/Doktorarbeit über abc geschrieben und finde…“, also mit „ich habe mords die Ahnung also macht, was ich empfehle“ beginnt =_=
  3. Sturköpfigkeit – Was mich auch schon direkt zum nächsten Problem führt. Viele Diskussionsteilnehmer sind dermaßen von ihrer eigenen Kompetenz überzeugt, dass es für sie schlicht unmöglich erscheint, dass sich die Versammlung dennoch anders entscheidet, als sie es getan haben. Und dann setzt es sich der sture Messias in spe natürlich in den Kopf, in einer absolut aufopferungsvollen Aktion der Partei doch noch zur Einsicht zu verhelfen. Das läuft dann mittels TO- oder GO-Antrag, mittels unsachlicher Wortbeiträge, erschlichener Redezeit, etc. etc. Es geht so furchtbar viel Zeit drauf, die andernfalls möglicherweise sinnvoll genutzt werden könnte. Ich möchte damit natürlich nicht die aufgezählten Instrumentarien als schädlich oder nutzlos bezeichnen, ganz im Gegenteil. Aber man sollte sich vor Augen führen, wozu sie eigentlich gedacht sind und ob man nicht vielleicht doch akzeptieren kann, dass sich – aus welchen Gründen auch immer – die Versammlung nun einmal mit einer gewissen Begründung anders entschieden hat, als man selbst.
  4. Mangelndes Problembewusstsein – Hier weiß ich gar nicht so recht, wo ich anfangen soll. Jedenfalls gibt es einige (Themen-)Bereiche, die nicht ganz trivial sind. Damit meine ich, dass es nicht einfach ist, ohne einen gravierenden Fehltritt durch sie hindurch zu manövrieren. Dazu zählen die vielen -ismen, von denen sich die Partei ein vielen schönen Beschlüssen zwar distanziert, das Verhalten einer Großzahl der Mitglieder allerdings eine andere Sprache spricht. Dabei ist es völlig egal, ob es um Sexismus, Rassismus, Geschichtsrevisionismus, Nationalismus, Ableismus oder sonst was geht. Es gibt immer jemanden, der in solchen Fragen das „Mimimi“-Argument aufbringt und somit die Schar der Ignoranten und/oder Trolle hinter sich vereinigt, die dann inhaltliche Debatten auf das (endlose) Grundsatzdiskussionsniveau herabziehen. Und das obwohl die Frage eigentlich in den oben erwähnten Beschlüssen ja eigentlich schon längst unmissverständlich beantwortet ist. Das heutige Beispiel dafür war der Antrag zum Thema Inklusion. Die Intention dieses Grundsatzprogrammantrags war einfach nur fabelhaft. Es hat mich wieder ein bisschen stolz auf diese Partei gemacht, als ich gesehen habe, mit wie viel Hingabe man sich doch hinter die darin enthaltenen Ideale gestellt hat. Allerdings hatte der Antrag einen Haken: er hat nicht zu 100% das ausgedrückt, was intendiert war. Eine kritische Formulierung (nämlich die angestrebte Beibehaltung der „nationalen Identität“) hat aber dazu geführt, dass unter diesem Grundsatz(sic!)programmantrag Dinge hätten subsumiert werden können, die nicht im Sinne des Antrags, der Antragssteller und schon gar nicht der Piratenpartei sind. Das ist natürlich mehr als ärgerlich. Aber das ganze Verfahren im Versuch, diesesn Fehler zu heilen, hätte unglaublich beschleunigt werden können, wenn die Versammlungsteilnehmer es mit der notwendigen Ernsthaftigkeit behandelt hätten und über ein gewisses Problembewusstsein für solche Fragestellungen mitbrächten, anstatt mit Schlagworten wie „Gutmenschentum“, „weltfremd“ oder „Realitätsferne“ abzutun.
  5. „Eine Optimallösung oder keine Lösung“ – Natürlich sind weite Teile der Basis irgendwie mit der IT verbandelt, wo es ja durchaus schicklich ist, den Anspruch an sich zu stellen, „keine halben Sachen“ zu machen und nur eine Optimallösung als Lösung zuzulassen. Leider gilt das in der Politik nicht uneingeschränkt. Hier operiert man zwischen vielerlei Spannungsfeldern, die im Hinblick auf die vielfältigen Interessen der Involvierten schlichtweg nicht DIE optimale Lösung ermöglichen. Aber viele Piraten führen ihre Partei damit in eine selbst auferlegte Apathie, wenn sie als Alternative zum Stillstand und dem „dazu haben wir keine Meinung“ nur jene Lösung akzeptieren, die alle Interessen vollumfänglich erfüllt. Genau an diesem Punkt bin ich in jeder der Redeschlachten heute fast verzweifelt. Natürlich ist das Gegenteil von „gut“ nicht zwingend „schlecht“, sondern meistens „gut gemeint“. Aber wer aus Angst, an einem falschen Ort anzukommen gar nicht erst losläuft, hat nur darin absolute Sicherheit, dass er auch nicht an dem gewünschten Ort ankommt. Eigentlich ist das schon beschämend für eine Partei, die sich ja sonst der Tatsache sehr bewusst ist, dass es keine absolute Sicherheit geben kann…
  6. Andersartigkeit als Dogma – Ein Argument, das oft gefallen ist, war auch, dass ein Vorschlag oder Antrag abzulehnen sei, da er sich nicht ausreichend von der Programmatik anderer Parteien abheben würden. Leute, damit schießen wir uns doch selbst ins Knie! Wir können nicht auf der einen Seite gegen den Fraktionszwang (der Politikwissenschaftler nennt das lieber „Fraktionsdisziplin“) und themenbezogene Koalitionen fordern, wenn wir auch im Austausch mit dem (vermeintlichen) politischen Gegner die Qualität einer Lösung davon abhängig machen, von wem sie kommt. Natürlich müssen wir uns von der Programmatik der anderen Parteien abheben; wenn sie denn schlecht ist. Aber gerade wir haben enorm davon profitiert, dass sich gute Ideen durchsetzen; unabhängig davon, wer sie in den politischen Diskurs eingebracht hat.

Autor: Herr_Samsa

Eingeschlafen - geträumt - aufgewacht - Käfer.

2 Gedanken zu „#Bongs Tag1: Rückschau aus Anwendersicht“

  1. Sehr schön. Auf diesen Artikel habe ich die letzten beiden Tage gewartet. Da ich selbst kein Piratenmitglied bin, noch dazu herzlich wenig von Politik und den mit ihr einhergehenden Themen verstehe, weiterhin die aktuellen Ereignisse lediglich über das Radio (SWR“) mitverfolgt habe (wo die Sache meist mit ein, zwei Sätzen durchgewürgt wurde – mit Betonung auf „… nur 5 von 800 eingereichten Anträgen …!“), lese ich vorzugsweise Berichterstattungen aus dem Kreise der Eingeweihten, die jedoch einer gewissen Objektivität und (konstruktiv) kritischer Haltung der eigenen Partei gegenüber nicht entbehren. Die außerdem nicht vor unverständlichem Fachchinesisch überquellen und in ihrer Länge den Vergleich mit einer Doktorarbeit nicht zu scheuen brauchen.

    Darum also war ich so auf deinen Bericht gespannt. Habe ihn nun einige Male durchgelesen, verstehe einmal mehr etwas besser, wo die Probleme, aber auch, wo die Übereinstimmungen innerhalb der Piraten liegen.
    Bei den meisten Punkten (insbesondere 1 und 2) dünkt mir, wie schon so oft im Zusammenhang mit Politik, nicht allein auf die Piraten bezogen, dass Nicht-Parteimitglieder, die zwar voll informiert, in jedem Falle aber objektiv/neutral der Sache gegenüberstehen bei derlei Veranstaltungen mit von der Partie sein sollten – Betrachter, die einen von Emotionen und „Sturköpfigkeit“ freien Blick haben und im Ernstfall (wenn, sagen wir, besagter emotional aus dem Ruder laufende Diskussionen wegen Zeit „vergeudet“ wird, die an anderer Stelle dringend vonnöten wäre) intervenieren können.
    Freilich, das ist leichter gesagt als umgesetzt, dessen sind wir uns wohl alle bewusst und ich bin sicherlich nicht die Erste, der solche Gedanken kommen.

    Je nun. Interne Hürden haben alle Vereinigungen zu überwinden. Ist für mich als Außenstehende nur spannend zu beobachten, wie die Piraten das wohl handhaben werden – und ob sie mich mit ihrem Tun am Ende nicht vielleicht doch noch von sich überzeugen können. 🙂

    Es grüßt
    das Rueken
    (Bitte etwaige Rechtschreib- und Grammatikfehler zu verzeihen, mir schwirrt der Schädel. Irgendwie unterzuckert.)

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